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■ Die US-Linke ist von Clinton enttäuscht. Doch die Alternative lautet: Durchmarsch der extremen RechtenMehr als das kleinere Übel

„Geht nicht wählen, das ermutigt sie nur!“ Dieses Bonmot spiegelt die Haltung von vielen, die der progressiven Community angehören. Das heißt: von Arbeiteraktivisten, engagierten Pastoren, besorgten Bürgern, kurzum: von Leuten mit Bewußtsein und Einsatzfreude, die Dinge in Bewegung bringen können. Trotzdem gilt es in diesem Herbst einen anderen Weg einzuschlagen: nämlich wählen zu gehen und nicht vor dem Gegner zurückzuweichen.

Ich kenne die Enttäuschung, die sich mit Clintons Ära im Weißen Haus verbindet. Eines von vier Kindern – und jedes zweite afroamerikanische Kind – wird in diesem reichen Land in Armut geboren. Die Kapitulation des Präsidenten vor Gingrichs Abbau des Wohlfahrtsstaates ist ein nicht zu rechtfertigender, beschämender Fakt, der das Schicksal von Millionen von Kindern gefährdet. Er hat sich – von Nafta über die strikte Haushalts- bis zur knappen Geldpolitik – an den Wirtschaftskurs der Konservativen angeschmiegt, der dieses Land auf den Weg nach unten führt. Und die politischen Tricksereien des Weißen Hauses kenne ich aus eigener Erfahrung. Trotzdem: Rückzug nützt nichts.

Denn im Herbst steht nicht nur das Weiße Haus auf dem Spiel. Der Kongreß wird gewählt: Damit steht die Kontrolle beider Häuser, des Repräsentantenhauses und des Senats, auf dem Spiel. So geht es bei dieser Wahl um mehr denn je. Es ist eine Abstimmung über die radikal rechte, unternehmerfreundliche, staats- und volksfeindliche Dole/Gingrich-Agenda. Wenn Dole gewinnt, kontrolliert Gingrich den Kongreß, und Scalia und Thomas werden über eine Mehrheit im Obersten Gerichtshof verfügen. Diese Clique wird weit mehr Schaden anrichten, als viele heute vermuten. Man muß sich nur daran erinnern, was sie bereits früher angerichtet haben. Ihre ersten Angriffsziele waren die Armen, die Schutzbedürftigen und die Jugend. Die Steuerlast der working poor stieg um Milliarden, bei Wohlfahrt, Versorgung mit Essensmarken und medizinischer Betreuung wurde hingegen schmerzhaft eingespart. Die Mittel der ärmsten Schulen im Lande wurden um über eine Milliarde gekürzt – im Schnitt 5.000 Dollar je Klasse. Die Schutz von Luft und Wasser wurde professionellen Umweltverschmutzern überlassen, Bürgerrechte beschnitten, und das Recht von Frauen, abzutreiben, geriet unter Beschuß. Verglichen mit Gingrichs Angriffen erscheinen die von Clinton blaß.

Falls der Rechten im Herbst die vollständige politische Macht zufallen sollte, wird es noch weit schlimmer kommen. Anders als Clinton weiß Gingrich genau, wer seine Verbündeten sind. Er würde systematisch versuchen, die progressiven Kräfte zu schwächen und die extreme Rechte zu unterstützen. Die Bürgerrechte würden mit den brennenden Kirchen im Süden in Asche fallen. Die wiedererstarkten Gewerkschaften wären ständigen Attacken ausgesetzt. Die Unternehmer würden straflos die Rechte der Arbeiter verletzen. Steuersenkungen würden Wohlstand und Macht der Reichen vermehren, öffentliche Subventionen in konservative think tanks fließen. Vier Jahre Gingrich/Sole/Scalia – und wir würden den Rest unseres Lebens damit verbringen, den Boden unter den Füßen zu suchen, der uns in diesen vier Jahren abhanden gekommen wäre.

Wer nun für einen Rückzug vor diesem Angriff auf die Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft plädiert – nur um politisch einmal recht zu haben –, ist nicht viel besser als jene, die für die Abschaffung des Sozialstaats votieren. Auch sie setzen das Wohl anderer aufs Spiel, um eigener politischer Ziele willen. Das aber ist eine Gefühllosigkeit, die sich Leute mit Gewissen nicht erlauben können.

Zweitens dürfen wir trotz aller Enttäuschungen nicht ignorieren, was die Clinton-Regierung geleistet hat. Die Steuerlast für Wohlhabendere ist heute höher, die für Ärmere niedriger als früher. Affirmative action (die „positive Diskriminierung“ von Minderheiten; d.Ü.) wurde wiederbelebt. Die Gesundheitsfürsorge wurde verteidigt, ebenso das Recht, abzutreiben, zumindest auf Bundesebene. Clinton hat sein Vetorecht genutzt, um die übelsten Attacken aus Gingrichs Programm zu stoppen.

Drittens müssen wir uns daran erinnern, wie politische Richtungswechsel zustande kommen. Solche Wechsel bringen nicht Politiker zuwege, sondern engagierte Leute. Roosevelt führte seinen Wahlkampf 1932 mit der Ankündigung, für einen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen – und nicht mit dem Versprechen, den New Deal ins Werk zu setzen. Damals wählte ihn die arbeitende Bevölkerung, weil er die beste mögliche Wahl war – und die Forderungen dieser working people beschleunigte den New Deal. Martin Luther King billigte John F. Kennedy als die bestmögliche Wahl, obwohl sich Kennedy der Bürgerrechtsagenda verweigerte. Erst die couragierten Männer und Frauen brachten Kennedy dazu, seine Meinung zu ändern.

Viele beklagen, daß Clinton sein Fähnchen stets in den Wind hängt. Aber das gilt für alle Politiker. Das ist kein Grund, zum Rückzug zu blasen. Wir müssen im Gegenteil härter daran arbeiten, daß sich der Wind dreht. Die Macht der Unternehmer mag erklären, warum uns die Konservativen im Medienkrieg überlegen sind. Aber es ist unverzeihlich, wenn wir anderswo freiwillig den Rechten das Feld überlassen.

So ist Clinton in diesem Jahr nicht unsere Antwort, aber unsere bestmögliche Wahl. Wir brauchen seine Wiederwahl, und wir müssen den Kongreß zurückerobern. Aber das ist erst der Anfang. Wir müssen in Bewegung bleiben, mehr fordern, als sie sich zu träumen wagen, und einen Richtungswechsel schaffen, auf den sie reagieren müssen.

Das ist nicht unmöglich. Denn Gingrich und die Rechte haben viele Leute mit Bewußtsein gegen sich mobilisiert. So existiert eine neue Energie in den zivilen Bewegungen unserer Zeit: bei Arbeitern, Frauen, in der Umwelt- und der Bürgerrechtsbewegung. Zynismus ist billig – und gleichzeitig zu kostspielig. Aufgabe und Rückzug taugen nicht. Wir müssen uns engagieren und abermals engagieren, um die Dinge in Bewegung zu bringen. Jesse L. Jackson

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