: Mehr als Glitzer
Im Juni beginnt die Pride-Season, überall im Land finden CSDs statt. Unser Autor ist genervt: Über die Ursprünge weiß kaum jemand Bescheid, hypersexualisiert, hedonistisch und unpolitisch findet er die meisten Paraden. Dabei waren Queers lange nicht so bedroht wie jetzt

Von Dennis Chiponda
Schwul sein heißt für viele Männer: Sex, Selfies, Pumpen und Party. Diese vier Aspekte sind für sie nicht nur Teil des Lebens, sondern fest mit ihrer Identität verwoben. Denn viele in der Community verwechseln Hedonismus mit Charakter und zeigen das unverhohlen, halb nackt tanzend, auf den jetzt startenden Christopher-Street-Day-Paraden in ganz Deutschland.
Wir Homosexuelle haben uns in unseren Privilegien eingerichtet. Wir feiern, als gäbe es kein Morgen, während die Rechten längst dabei sind, uns die Zukunft zu nehmen. Doch politische Haltung, die über Sexpositivität hinausgeht, suche ich oft vergeblich, vor allem bei den großen CSDs. Dabei können wir genau wegen dieser Haltung heute so offen feiern.
Der Stonewall-Aufstand in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 war der Wendepunkt für die moderne queere Bewegung. Nach einer Polizeirazzia im Stonewall Inn, einer Bar im New Yorker Greenwich Village, wehrten sich queere Menschen – viele davon trans, Schwarze und Latinx – erstmals kollektiv gegen Diskriminierung und Polizeigewalt. Die Proteste dauerten mehrere Tage und wurden zum Symbol für Widerstand gegen Unterdrückung.
Eine der wichtigsten Figuren dieser Nächte war Marsha P. Johnson, eine Schwarze trans Frau und Dragqueen. Gemeinsam mit Sylvia Rivera gründete sie die Organisation STAR, die sich um obdachlose queere Jugendliche kümmerte – ein Akt echter Solidarität, während der Mainstream der Schwulenbewegung sich lieber auf „respektable“ Anliegen konzentrierte.
Marsha P. Johnson war bei Stonewall eine der Ersten, die Widerstand leisteten. Ihr Mut machte sie zur Ikone, doch in den Folgejahren wurde sie von der weißen, bürgerlichen Schwulen- und Lesbenbewegung oft ignoriert. Viele wollten sich von den „unbequemen“ Transpersonen und People of Color distanzieren, um gesellschaftlich akzeptabler zu erscheinen.
Marsha P. Johnson kämpfte trotzdem weiter. Sie starb 1992, verarmt und am Rande der Gesellschaft. Ihr Vermächtnis lebt in der queeren Bewegung weiter, auch wenn viele ihren Namen erst jetzt wiederentdecken.
Stonewall war kein Startschuss zu einer Party, sondern zu einem politischen Kampf. Es waren die Mutigen, die Marginalisierten, die für unsere heutigen Freiheiten kämpften. Wer den CSD feiert, sollte wissen: Ohne Marsha P. Johnson und viele andere trans und PoC-Aktivist*innen gäbe es diese Freiheiten nicht.
Doch wenn ich auf den CSDs frage, ob jemand Marsha P. Johnson kennt – oder wenigstens die Geschichte von Stonewall –, blicke ich oft in fragende, besoffen-glasige Augen. Mich verwundert das wenig, denn der CSD, der inklusiv sein sollte für alle Farben des genderqueeren Spektrums, ist zu einer weißen Hunkparade verkommen. Man besäuft sich auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer.
Ich habe auf vielen CSDs gehört: „Er darf nicht zu politisch werden. Das wollen die Leute nicht.“ Dann sollen sie halt zu Hause bleiben! Denn Gleichberechtigung und die Verteidigung queerer Rechte sind kein Spaßprogramm, das nur mit Party funktioniert.
Klar, auch politische Veranstaltungen sollen Spaß machen. Aber warum müssen wir unsere sexuellen Fantasien und Abenteuer des Nachtlebens während eines Familienevents am hellichten Tag ausleben? Sieht so das queere Leben aus, das wir im Alltag führen? Nein. Es ist ein Teil der Subkultur, den wir sonst bewusst in die Nacht verlegen – wie Heteros auch. Beim CSD sind auch Kinder anwesend. Es soll ein Familienfest sein, aber ich kann manchen so tief in den Gluteus maxismus blicken, dass ich mich frage, ob das nicht besser auf die Afterparty gehört. Rechte Kräfte behaupten ohnehin ständig, wir würden Kinder einer Frühsexualisierung aussetzen. Dieses Vorurteil müssen wir nicht auch noch bestätigen. Ich möchte meinem Neffen zeigen, dass jede Form von Liebe Respekt verdient – nicht, welchen Fetisch sein Onkel hat.
Der CSD ist leider zum performativen Karneval verkommen. Auch deshalb habe ich keine Lust mehr auf die großen Veranstaltungen. Die Bühne gehört dort den weißen, muskulösen, cis Gays, die in der Werbung für Diversity stehen, solange sie das Schönheitsideal darstellen. Der Rest? Randfiguren. Asexuelle Menschen, Lesben, PoC … fühlen sich oft nicht angesprochen oder sogar ausgeschlossen. Gerade diese hypersexualisierten, aufgepumpten Männer sind das schwule Äquivalent zu betrunkenen Fußballfans, die grölend in die Bahn steigen. Ist es das, was sie meinen, wenn sie von Gleichberechtigung sprechen? So toxisch sein, wie die Heteros?
Dennis Chiponda
ist 33 und identifiziert sich als „queerer, neurodivergenter Afropole mit ostdeutschem Arbeiterhintergrund“. Er wohnt in Leipzig. Für die taz Panter Stiftung moderiert er seit Januar den Podcast „Mauerecho – Ost trifft West“.
Die kleinen CSDs auf dem Land sind oft politischer, solidarischer und echter. Dort geht es um Inhalte, Sichtbarkeit und Community. Es gibt Sprechbeiträge, es wird diskutiert, gestritten, geweint und gelacht. Man spürt die Gefahr von rechts unmittelbar. Wir erinnern uns an die Angriffe in Bautzen und Leipzig. Diese CSDs sind noch nicht so „pinkwashed“ und banalisiert, weil die Menschen noch unmittelbar spüren, wofür sie kämpfen. Ich wohne in Leipzig. Wann wurde ich das letzte Mal dafür diskriminiert, schwul zu sein? Jahre her. Aber auf dem Land muss man mutig sein, um sich zu outen.
Ich habe nichts gegen Sex und Party. Aber muss ich auf einer politischen Demo halb nackt tanzen, während am Rand die AfD Wahlstände aufbaut und queere Rechte im Bundestag unter Kanzler Friedrich Merz wieder zur Disposition stehen? Während trans Menschen in den USA um ihr Leben fürchten, weil der US-Präsident sie hasst? Während in Ungarn Regenbogenfamilien kriminalisiert werden? Während in Deutschland queere Jugendliche auf dem Land Angst haben, sich zu outen, und die Zahl der Übergriffe auf Homo- und Transsexuelle steigt?
Viele, die heute auf dem CSD feiern, interessieren sich wenig für Inhalte. Sie gehen nicht zu den Sprechbeiträgen, sie hören nicht zu und wollen nicht diskutieren. Sie wollen feiern. Und die heterosexuelle Allys machen sich ein bisschen Glitzer ins Gesicht, feiern mit und fühlen sich ganz toll dabei.
Wenn wir nicht aufpassen, sind unsere Rechte irgendwann weg und die Leute merken es nicht einmal. Vergesst nicht: Die Goldenen Zwanziger waren eine Hochzeit queerer Kultur – bevor die NS-Zeit innerhalb weniger Jahre alles zunichtemachte.
Ich will einen CSD, der wieder politisch ist. Einen CSD, der kämpft, solidarisch ist, unbequem bleibt. Einen CSD, der für alle da ist, nicht nur für die Privilegierten. Einen CSD, der nicht nur feiert, sondern auch erinnert. Der nicht nur konsumiert, sondern gestaltet. Einen CSD, der Haltung zeigt!
Jetzt ist nicht die Zeit für Hedonismus. Es ist Zeit, unsere Rechte zu verteidigen, Privilegien zu reflektieren und sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Die queeren Rechte werden uns gerade wieder Stück für Stück genommen – leise und schleichend. Und wir tanzen dazu.
Dabei müssen wir wieder unbequem werden. Wir müssen kämpfen. Für uns. Für alle. Für die, die nicht laut sein können. Für die, die vergessen wurden. Für die, die noch kommen werden.
Also: Zieht euch an, kommt raus, hört zu, macht mit. Es geht um mehr als Party. Es geht um alles.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen