"Mehr Demokratie" zum neuen Wahlrecht: "Neulinge haben auch Wissen"
Das neue Stimmrecht gebe Talenten von außen eine Chance, lobt Manfred Brandt von "Mehr Demokratie". Parteien sollten keinem verbieten, für sich zu werben.
taz: Herr Brandt, Ihr Verein Mehr Demokratie hat das neue Wahlrecht erstritten. Viele stöhnen, es sei zu kompliziert.
Manfred Brandt: Das wird besser. Es war das letzte Mal, dass Bürgerschaft und Bezirke gleichzeitig wählten. Auch erhielten viele Bürger die Musterstimmzettel erst kurz vor der Wahl. Dabei lebt das Wahlrecht davon, dass die Menschen sie schon vier Wochen vorher bekommen und damit Zeit haben, die Kandidaten kennenzulernen.
Sind Sie denn zufrieden?
Ja, die Wählerinnen und Wähler haben Einfluss darauf genommen, wer sie vertritt. Das ist deutlich zu sehen. Das ist das wichtigste Ziel der Reform. Nur so werden die Parteien sich öffnen und politische Arbeit attraktiv auch für Talente von außen machen.
In allen Parteien haben unbekannte Newcomer erfahrene Politiker verdrängt. Wie erklären Sie, dass Thomas Böwer (SPD) mit 15-jähriger Parlamentserfahrung in seinem Wahlkreis nur fünf Prozent erhielt und leer ausgeht?
Seine Mitbewerberin hatte offensichtlich eine höhere Akzeptanz. Vielleicht gaben viele einer engagierten Frau den Vorzug. Frauen profitieren von diesem Wahlrecht.
MANFRED BRANDT 66, ist Agrarwissenschaftler und Gründungsmitglied des 1997 gebildeten Hamburger Landesverbands von Mehr Demokratie.
Geht so nicht wichtiges Polit-Know-how verloren?
Wieso geht es verloren? Die Nicht-Wiedergewählten verstecken ihr Wissen ja nicht zu Hause und treten aus ihrer Partei aus. Und etwa 80 Prozent der Abgeordneten kommen wie von der Partei vorgeschlagen ins Parlament. Die sogenannten Neulinge haben auch Wissen und Können und sind mitunter schon alte Polithasen. Warum soll das schaden?
CDU-Politiker Nikolas Haufler, der auch auf Russisch unter Russlanddeutschen um Stimmen warb, kam von Platz 50 der Landesliste auf Platz sieben. Wie kommt ein Kandidat nach vorn? Muss er vernetzt sein in Vereinen und Communities?
Da ist was dran. Das bedeutet aber auch Bodenhaftung und ist völlig o.k. Davon profitiert doch auch seine Partei.
Oder muss man prominent sein? Theater-Intendantin Isabella Vértes-Schütter und Ex-Senator Jan Ehlers wurden nach vorn katapultiert. Wie leicht muss es da für Schauspieler sein, ins Parlament zu kommen?
Positive Bekanntheit ist doch kein politisch negatives Qualitätsmerkmal. Konkret, die Wahl von Isabella Vértes-Schütter wird die Kulturschaffenden freuen, und ein alter Polithase wie Jan Ehlers bereichert das Parlament.
Die auf Platz 31 am oberen Seitenende Platzierten bekamen viele Stimmen. Muss man die Wahlbögen ändern?
Ja, dringend. Besser wären vielleicht Fünfer-Blocks oder ein Leporello. Da muss man ein paar Kreative ran lassen.
Welche Rolle spielt Geld bei der Wahl?
Nicht unwichtig, aber nicht entscheidend.
In Eimsbüttel-West hat die bei der GAL an zweiter Stelle platzierte Stefanie von Berg aus Spenden bezahlte Plakate aufgestellt und ein Mandat gewonnen. Mancher raunt, es sollten nur die Erstplatzierten mit Plakaten werben.
Das würde dem Zweck und Geist der Wahlrechtsreform zuwiderlaufen. Geld zu sammeln und für ein Mandat zu kämpfen, gehört zur politischen Qualifikation. Davon profitiert auch die Partei.
Kritiker sagen, man könnte Mandate kaufen; wir bekämen amerikanische Verhältnisse.
Das ist Quatsch. Das droht eher bei einem Wahlrecht, das nur auf Spitzenkandidaten einer Partei zugeschnitten ist. Viele engagierte Kandidaten sind für einen erfolgreichen Wahlkampf wichtiger als viel Geld.
Führt das Wahlrecht zu Zwist in den Parteien?
Der Kampf um sichere Listenplätze war beim alten, reinen Listenwahlrecht härter, allerdings verdeckt. Wer jetzt keinen guten Listenplatz hat, kann hoffen, dass der Wähler es besser regelt. Das macht die Konflikte transparenter und milder. Bei einigen besteht da noch Lernbedarf.
Sollte es in Parteien einen Kodex geben, was Kandidaten dürfen? Bei der Linken ist das Sammeln eigener Spenden tabu.
Das ist eine Frage der innerparteilichen demokratischen Kultur und o.k., solange es ihnen nicht verboten wird, für sich zu werben, um von hinten nach vorne gewählt zu werden. In der SPD gab es die Absprache, Plakate im Wahlkreis nur für Platz eins und zwei aufzustellen. In Süderelbe hat ein Kandidat auf Platz drei selber Schilder aufgestellt und wurde gewählt. So etwas muss möglich sein.
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