Meeresrauschen im Hamburger Bahnhof: Von Krähenflug und Soldatenschritt
Der Grusel ist nur abstrakt: "The Murder of Crows" von Janett Cardiff und Georges Bures Miller im Hamburger Bahnhof in Berlin.
Je höher der Vorhang, desto mehr Drama: An dramatischen Gesten sparen Janett Cardiff und Georges Bures Miller wahrhaftig nicht in ihrer Klanginstallation "The Murder of Crows" im Hamburger Bahnhof in Berlin. Der rote Vorhang, durch den der Besucher selbst wie ein Akteur die Bühne der Installation betritt, könnte manchen Theaterdirektor vor Neid erblassen lassen. Er reicht bis unter die Decke der Bahnhofshalle. So erwartet man nicht weniger als ein welthistorisches Epos. Meeresrauschen, Windgeheul und der Gesang einer Armee, der sich in Wellen über die 98 Lautsprecher im Raum ausbreitet, nehmen sich dieser Erwartung an.
Bilder, Bilder gibt es nicht in dieser 30-minütigen Soundschleife des kanadischen Künstlerpaares. Cardiff und Miller zerlegen das Kino und das Theater in ihren Installationen seit gut zehn Jahren zwar gerne in seine Elemente, machen bei der emotionalen Agitation der dramatischen Künste aber jede Menge Anleihen. Weil sie auf Bilder verzichten, wird ihre Methode auch abstrakt und reduziert genannt und wie eine Anatomie der Illusions- und Konsummaschine Kino betrachtet; verliebt in die großen Effekte sind sie aber trotzdem. Nur dass man bei ihnen unverstellter auf die Instrumente blickt, die sie erzeugen.
In "The Murder of Crows" sind das vor allem Lautsprecherboxen, die über die weite Fläche der Halle verteilt den gewaltigen Soundtrack räumlich inszenieren. Viele der Musikstücke, die vom Deutschen Filmorchester Babelsberg eingespielt wurden, ließen Cardiff & Miller eigens für "The Murder of Crows" komponieren; nur das Lied der Soldaten, das sich im Marschtempo aus dem Hintergrund der Halle auf den Vorhang zuschiebt, stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Es ist ein patriotischer Militärmarsch, geschrieben für die Rote Armee von Alexander Alexandrow, als Hitler seinen Russlandfeldzug begann.
Eindeutiges Zentrum der Installation ist in der Hallenmitte, wo die Boxen nicht nur dichter stehen, sondern auf Stühlen Platz genommen haben. Einige Sitze dazwischen sind noch für die Besucher frei, um dem intimsten Teil zu lauschen. Wie der Trichter eines alten Grammofons sieht der Lautsprecher aus, aus dessen Windungen Janet Cardiffs Stimme kriecht.
Ihre Sätze jagen Bildern nach, die sich dauernd verwandeln, wie im Traum. Es sind bedrückende Szenarien, die von Verletzungen, von Sklaven, Folter und Massenmorden erzählen. Sie erinnern dabei, nicht zuletzt durch die Unterstützung der Musik, an die Totalitarismen und Kriege des 20. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Kolonialisierung. Genauer bestimmen lassen sich Ort und Zeit nicht; und so nährt sich der Verdacht, dass all das Schreckliche vielleicht auch eine Beschreibung der Zukunft und dies die Stimme der Kassandra ist.
Viel mehr als die etwas verschwurbelten Texte Cardiffs agitiert einen freilich der Sound. Er bleibt nicht einfach ein Gegenüber, wie ein Bild auf der Leinwand, sondern nimmt einen mit, fährt in Glieder und Gefühle. Das ist das eigentliche Spiel. Man möchte mit den Soldaten singen und wie die Krähen um die Säulen der Halle flattern. So unterschiedlich, ja geradezu entgegengesetzt eine Armee und ein Vogelschwarm als Ordnungsmuster besetzt sind, als große, kollektive Bewegung greifen sie beide.
Das ist eine ebenso spekulative wie spektakuläre Inszenierung. Der Grusel ist hier nur abstrakter als in Historien- und Science-Fiction-Filmen. Im Berliner Hebbeltheater zeigten Cardiff & Miller im März wieder ihren Video-Walk "Ghost Machine". In dem eigentlich leeren Theater wird die Wahrnehmung des Besuchers, der durch Foyers und über Hintertreppen geschleust wird, geschickt mit Fiktionen verknüpft, die ihm über Kopfhörer und eine Videokamera in der Hand zugespielt werden. Das hat mehr Charme und ist weniger bombastisch als die Aufführung von "The Murder of Crows", ursprünglich für die Sidney-Biennale 2008 produziert.
Für den Hamburger Bahnhof, der zusammen mit den Freunden Guter Musik die Kanadier eingeladen hat, ist die Installation allerdings praktisch, hält sie doch während der Zeit der Neuordnung der Sammlung unter dem neuen Direktor Udo Kittelmann die große Halle offen. Zugleich verbündet sich die Installation mit den Fluxusmaschinen und Performancevideos in den ersten wiedereröffneten Räumen zu einem Parcours, der die Aufführung und den Prozess in den Mittelpunkt der bildenden Kunst rückt.
"The Murder of Crows", Berlin, Hamburger Bahnhof, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11- 18 Uhr, bis 17. Mai
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles