Meduza-Auswahl, 14. – 20. November: Rückt die Welt näher an den Atomkrieg?
Putin bestimmt eine neue Nuklearpolitik: Atomwaffen sollen bereits eingesetzt werden können, wenn Russlands Souveränität gefährdet sei. Und nun?
Das russisch- und englischsprachige Portal Meduza zählt zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien. Im Januar 2023 wurde Meduza in Russland komplett verboten. Doch Meduza erhebt weiterhin seine Stimme gegen den Krieg – aus dem Exil. Die taz präsentiert seit 1. März 2023 unter taz.de/meduza immer mittwochs in einer wöchentlichen Auswahl, worüber Meduza aktuell berichtet. Das Projekt wird von der taz Panter Stiftung gefördert.
In der Woche vom 14. bis zum 20. November 2024 berichtete Meduza unter anderem über folgende Themen:
Russischer Ex-Außenminister Kosyrew über Ukraine-Krieg
Andrej Kosyrew war Anfang der 1990er Jahre Außenminister Moskaus, zunächst für die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und dann während der ersten Amtszeit von Boris Jelzin als Präsident der Russischen Föderation. Kosyrew erlebte den Augustputsch hautnah mit und war direkt an der Ausarbeitung des Belowescha-Abkommens beteiligt, mit dem die UdSSR rechtlich aufgelöst wurde. Nach seinem Ausscheiden aus dem Kabinett wurde Kosyrew als offen pro-westlicher Politiker in die russische Staatsduma gewählt.
Später ging er verschiedenen geschäftlichen Tätigkeiten nach und verfasste mehrere Bücher. In den letzten Jahren lebte Kosyrew in den Vereinigten Staaten, wo er die Politik des Kremls unverblümt kritisierte. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat er russische Diplomaten aufgefordert, aus Protest gegen den Krieg zurückzutreten. Der Schriftsteller und Journalist Mikhail Zygar hat sich kürzlich mit Kosyrew zusammengesetzt und ihn zu seiner bewegten Vergangenheit befragt. Meduza fasst die wichtigsten Enthüllungen und Beobachtungen aus dem Gespräch zusammen (Englischer Text).
Kosyrew erzählt etwa: Russland sei in den 1990er Jahren trotz des vom Kreml bekundeten Interesses an einem Beitritt zum Bündnis „absolut unvorbereitet“ auf die NATO-Mitgliedschaft gewesen. Moskau stand vor der gewaltigen Aufgabe, seine Streitkräfte umzustrukturieren und das gesamte Militär unter demokratische Kontrolle zu stellen. Indem Putin die Situation so darstellte, dass die NATO sich weigere, Russland in ihre Reihen aufzunehmen, „verzerrte er die Angelegenheit und verwandelte sie in ein politisches Druckmittel“, so Kosyrew.
Warum kracht es in der Separatistenregion Abchasien?
Aslan Bzhania, der Präsident der von Russland unterstützten georgischen Separatistenregion Abchasien, erklärte sich am frühen Dienstagmorgen zum Rücktritt bereit, nachdem es tagelang zu heftigen Protesten gegen ein geplantes Investitionsabkommen gekommen war, das es russischen Unternehmen ermöglichen würde, lokale Immobilien aufzukaufen. Die Demonstranten erklärten sich bereit, das Parlamentsgebäude der Region, das sie seit Freitag besetzt hielten, zu räumen, wenn Bzhania im Gegenzug zurücktritt und Neuwahlen abhält.
Meduza sprach mit Olesya Vartanyan, einer auf den Südkaukasus spezialisierten Konflikt- und Sicherheitsanalystin: Warum verursachte das vorgeschlagene Investitionsabkommen einen derartigen Aufruhr? Was bedeutet der Rücktritt Bzhanias für die Zukunft Abchasiens? Und wie geht Moskau mit der Krise um? (Englischer Text.)
Lehrer sein unter dem Stiefel Putins
Schullehrer gelten einigen in Russland als Instrumente staatlicher Unterdrückung. Einige Eltern versuchen deshalb, ihre Kinder vor staatlicher Propaganda zu schützen, indem sie diese zu Hause unterrichten. Aber es gibt auch Lehrer in den Schulen, die die Politik von Wladimir Putin und den von ihm entfesselten Krieg in der Ukraine nicht unterstützen.
Viele von ihnen vermitteln ihren Schülern – trotz dass sie dafür denunziert werden könnten – eine alternative Sichtweise auf die „Sonderoperation“ und die repressiven Gesetze Russlands. Und lehren dabei auch, was Menschenrechte sind und wie man Propaganda erkennt.
Es ist ein gefährliches Unterfangen. Die Journalistenkooperative Bereg berichtet, wie Lehrer unter solchen Bedingungen arbeiten, was sie motiviert und frustriert – und wie sie versuchen, sich zu schützen. Meduza veröffentlicht das Material der Kollegen in vollem Umfang (Russischer Text).
Maria Vasilevskaya, Forschungsleiterin bei OVD-Info und Direktorin des Hannah-Arendt-Zentrums, erklärt: Alles in Russland sei derzeit hochgradig politisiert. „Es ist unmöglich, über die Wirtschaft zu sprechen, ohne den Krieg zu erwähnen. Deshalb ist alles, was mit der aktuellen Situation in Russland zu tun hat, für Lehrer sehr gefährlich geworden. Es spielt keine Rolle, ob sie sich im Unterricht, in den sozialen Medien oder im Lehrerzimmer beim Kaffee äußern. Die Lehrer sind in der Hand des Staates.“
Im Falle eines Atomwaffeneinsatzes…
Am 19. November 2024 unterzeichnete Wladimir Putin einen Erlass „Über die Verabschiedung der Grundlagen der Staatspolitik der Russischen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung“.
Pavel Podvig, der für die Vereinten Nationen zu russischen Nuklearwaffen forscht, spricht mit Meduza über die wichtigsten Änderungen, die Frage, ob die Welt nun näher an einem nuklearen Konflikt steht und wie eine gute Strategie des Westens unter den derzeitigen Umständen aussehen könnte (Russischer Text).
Die wichtigste Änderung findet sich in Absatz 18: Russland behält sich das Recht vor, Atomwaffen einzusetzen, wenn im Falle einer konventionellen Aggression gegen das Land eine „kritische Bedrohung der Souveränität oder territorialen Integrität“ vorliegt. Zuvor musste die Bedrohung „die Existenz des Staates selbst“ sein. Welche Art von Bedrohung als kritisch und welche als nicht kritisch angesehen werden kann, ist unbekannt, niemand kann ein eindeutiges Kriterium aufstellen. Solche Dinge werden bewusst undefiniert gelassen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Ineffizienter Sozialstaat
Geteilte Zuständigkeiten
Gesetzentwurf aus dem Justizministerium
Fußfessel für prügelnde Männer
Europarat beschließt neuen Schutzstatus
Harte Zeiten für den Wolf