Medikamentenforschung: Probanden gesucht, weltweit
Deutsche Arzneimittelstudien werden international. Um unter den Marktführern zu bleiben könnten deutsche Kliniken bald Tests in Osteuropa oder China durchführen.
Neue Arzneimittel müssen vor der behördlichen Marktzulassung in klinischen Studien geprüft werden. An bis zu 10.000 freiwilligen Kranken und Gesunden testen forschende Ärzte, ob eine pharmazeutische Innovation verträglich, sicher und wirksam ist. Dies nachzuweisen gelingt indes nicht immer; wie viele Studien aus welchen Gründen scheitern, erfahren interessierte Bürger hierzulande bisher nicht.
Potenziellen Probanden wird regelmäßig eine gute fachärztliche Betreuung in Aussicht gestellt - und auch bares Geld: "Außerdem erhalten Sie für die Teilnahme an dieser Studie eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 2.000 Euro", verspricht zum Beispiel die Berliner Uniklinik Charité 18 bis 70-jährigen Patienten, die an rheumatoider Arthritis leiden - vorausgesetzt, sie lassen sich eine Infusion mit einem neu entwickelten Antikörper verabreichen, der entzündungshemmend wirken soll.
Finanziell attraktiv sind derartige Studien auch für die Charité. Deren Vorstandsvorsitzender, Professor Detlev Ganten, legt öffentlich Wert darauf, dass die Forscher seines über 100 Kliniken und Institute zählenden Hauses jährlich 100 Millionen Euro an Drittmitteln "einwerben". Um Arzneimitteltests gezielt akquirieren und "im Auftrag namhafter Pharmakonzerne" abwickeln zu können, hat das Berliner Uniklinikum 2006 eigens eine Tochtergesellschaft namens Charité Research Organisation (CRO) gegründet; die Anschubfinanzierung steuerte die Schering AG bei.
Die CRO ist kein Einzelfall, ähnliche Einrichtungen zwecks Akquise von Arzneistudien gibt es auch an den Unikliniken in Hamburg, Hannover und Kiel. Eine spezielle Kooperationsvariante haben die Bayer AG und die Kölner Uniklinik vertraglich vereinbart. Ende März gaben sie gemeinsam bekannt, der Bayer-Teilkonzern HealthCare werde "hinsichtlich der Entwicklung und klinischen Testung neuer Substanzen jeweils prüfen, ob sich Studien in enger Zusammenarbeit realisieren lassen".
Die "bevorzugte Partnerschaft", die sich auf Innovationen gegen Krebs, neurologische Leiden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen konzentrieren soll, lässt sich Bayer pro Jahr einen "soliden sechsstelligen Betrag" kosten; außerdem leistet Bayer einen Beitrag zur Ausbildung junger Wissenschaftler, der in Deutschland "einzigartig" sei: Bayer fördert ein neues Uni-Graduiertenkolleg, Titel: "Pharmakologie und Therapieforschung".
Der Studienmarkt ist immens. Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) geben Pharmamultis allein in Deutschland "täglich mehr als 11 Millionen Euro" für die Arzneimittelforschung aus. Pro Proband zahlen die industriellen Auftraggeber bis zu 10.000 Euro an die testende Klinik, weiß Stephan von Bandemer vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Fachhochschule Gelsenkirchen. Der Politologe hält die Beteiligung an klinischen Studien für einen "Standortindikator", der Innovationen besser abbilde als Patente, die nur zu einem Bruchteil zur Marktreife gelangten.
Von Bandemer hat über 52.000 klinische Studien gesichtet, die im Februar 2008 weltweit registriert waren; in die Auswertung einbezogen wurden nicht nur Arzneimitteltests, sondern auch klinische Versuche mit medizinischen Geräten und Verfahren. In puncto Tests sei die Bundesrepublik in Europa "nach wie vor Marktführer", sagt von Bandemer. Mehr als 3.000 Studien hat er in Deutschland gefunden, die meisten laufen im Ballungsraum Ruhrgebiet, gefolgt von den Metropolen Berlin, München und Hamburg. Global weit vorn liegen die USA mit über 30.000 registrierten Studien.
"Stark im Aufwind" seien China, Indien und Russland, wo - zusammengenommen - mehr klinische Versuche stattfinden als in Deutschland. Solche Staaten seien für international agierende Gesundheitskonzerne attraktiv, weil dort Versuchspersonen schneller und zahlreicher zu rekrutieren seien als in Deutschland, erläutert von Bandemer; Studien seien dort kostengünstiger, die Zulassungsverfahren einfacher, und es winken, gemessen an den Bevölkerungen, potenziell riesige Absatzmärkte.
Ähnlich sehen dies Unternehmensberatungen wie Frost & Sullivan, die neben asiatischen Ländern auch EU-Newcomer wie Polen und Ungarn als Studienstandorte besonders empfehlen: In Osteuropa müssten Patienten oft ohne ausreichende Medikation auskommen. Dies trage dazu bei, die Bereitschaft zur Studienteilnahme zu steigern. Auch liege der Stundenlohn dort erheblich niedriger, nämlich bei einem Viertel des Niveaus westlicher EU-Länder. Dies ermögliche es Pharmafirmen, "ihre mitunter größte Ausgabe zu vermeiden: Alternativkosten, die bei einem verzögerten Start eines Medikaments auf dem Markt anfallen", schreiben die Ökonomen von Frost & Sullivan
Von Bandemer arbeitet im Rahmen eines vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekts, das darauf zielt, Gesundheitsdienstleistungen zu internationalisieren. Notwendig seien Vernetzungen und eine globale Strategie, die auch hiesige Klinikbetreiber verfolgen sollten, meint der Gesundheitsexperte. Für ihn denkbar ist, dass sich nordrhein-westfälische Unikliniken vernetzen, um Arznei- und Medizinproduktetests in Kooperation mit Krankenhäusern in Indien, China oder Russland zu organisieren - als Angebot für die Pharmaindustrie, das deren Aufwand für Studien "dramatisch reduzieren" helfen könnte.
Wie gesund derartige Globalisierungskonzepte für Probanden in den vergleichsweise armen Ländern Asiens und Osteuropas sind, wäre eine spannende Forschungsfrage. Studien, die empirisch gestützte Antworten geben könnten, fehlen.
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