Medienprojekt zu Walter Benjamin: Philosophie und Vogelrufe
Das Projekt „Eingedenken“ folgt dem Fluchtweg Walter Benjamins über die Pyrenäen. Mit Audios und Videos regt es zum erneuten Lesen an.
![](https://taz.de/picture/115175/14/benjamin_zeit.jpg)
Was ist das Grundprinzip, nach dem die Gesellschaft ihre Organisation strukturiert? Zeit, würde Walter Benjamin sagen. Der Kulturphilosoph und -kritiker liefert in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, die er 1940 im französischen Exil schrieb, eine fundierte Kritik am eintönigen Vermessen der Zeit.
Das war einige Monate, bevor er sich (nachdem er von den Behörden des Franco-Regimes an der Weiterreise ins rettende US-amerikanische Exil gehindert worden war) mit einer Überdosis Morphium das Leben nahm. Fortschrittskritik, die nicht stumpfer Traditionalismus sein will, so Benjamin, müsse in erster Linie Kritik am gleichförmigen Fortgang der Zeit sein, die die Grundlage des Fortschritts darstellt.
Kritik an der gängigen Zeitauffassung macht sich das neue intermediale Projekt „Eingedenken“ des Düsseldorfer Medienkünstlers Christoph Korn schon in der strukturellen Konzeption und Aufführungsform zu eigen. Die Walter Benjamin gewidmete, von der Hörspielabteilung des Kulturradios SWR 2 produzierte Audio- und Videoarbeit kann man ab Donnerstag zeitsouverän über die Website eingedenken.de anhören und besichtigen.
Korn ist für „Eingedenken“ am 14. Mai letzten Jahres Benjamins Weg über die Pyrenäen, den er beim Versuch der Einreise nach Spanien genommen hat, nachgegangen und hat im Gehen für den rein akustischen Teil seiner Arbeit Benjamins Thesen ins Mikrofon gesprochen. Jeder These ist ein einzelner fünfminütiger Audiobeitrag gewidmet, sehr langsam, ruhig und bedächtig gesprochen, gerahmt von der O-Ton-Atmo der Schritte, der Autos, des Windes und der Vogelrufe.
Auch die 20 Videos sind je fünf Minuten lang. Für sie hat Christoph Korn eine Videokamera auf den je zurückgelegten Wegabschnitt gerichtet und unbewegt laufen lassen. Jedes zweite Video ist mit einem Sinuston unterlegt; die entsprechen in der Tonhöhe den zehn Grundtönen des Kirchenliedes „Herr, ich glaube fest an dich“ und erzeugen eine fast schon taktil erfassbare Verbindung des Ohres zum Lautsprecher, der die Tonspur wiedergibt. Damit greift Korn Benjamins Metapher des Eingedenkens auf, nach der das „historische Subjekt“ sich einer ganz bestimmten Erinnerung „im Augenblick der Gefahr“ bemächtigt und sie so dem Vergessen entreißt.
Eine bedrückende Aktualität
Korns Audio- und Videoschnipsel kann man quasi selbsttätig zum Gesamtkunstwerk komponieren. Wille zur Eigeninitiative ist auch erforderlich, weil die Aufmachung der Website stark reduziert ist. Sie besteht aus einer dreispaltigen und 20-reihigen Tabelle von Links mit den durchnummerierten Thesen Benjamins und den dazugehörigen Audios und Videos.
Doch erschließt sich das Ganze dann weniger als eigenständiges Kunstwerk, als vielmehr ein Anstoß, Walter Benjamin neu zu lesen. Denn Korns Arbeit weist eine bedrückende Aktualität auf, in dem sie eine Parallele zwischen Benjamins intellektuellem Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus und heutigem Erstarken rechten Gedankenguts in ganz Europa zieht.
Dem Konformismus der kapitalistschen Verwertungslogik kann sich Korn jedoch nicht gänzlich entziehen. Nicht nur weil zeitsouveräner Medienkonsum oft nur der Reproduktion von Arbeitskraft dienen soll. Eigenartig ist, dass das frei verfügbare technisch reproduzierbare Werk „Eingedenken“ heute außerdem auch in einer limitierten Spezialedition beim Onomato-Verlag erscheint. Nichtsdestotrotz ist das Stück überaus empfehlenswert.
Die ersten sieben Audios zu Benjamins Thesen laufen Donnerstag ab 22.03 Uhr auf SWR 2, dann folgt bis zum 10. Juli wöchentlich jeweils ein weiterer Teil.
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