Massive Attack in Berlin: Politische Publikumsattacke
Das englische DJ-Kollektiv Massive Attack tritt in Berlin auf. Mit dabei: Stimmgewaltige Gastsängerinnen, Political Correctness und 90er-Jahre-Stimmung.
Besonders charismatisch seien sie ja nicht gewesen, regt sich auf dem Rückweg in der U-Bahn eine Konzertbesucherin auf. "Massive Attack haben einfach keine Bühnenpräsenz", erläutert sie ihrem Begleiter.
Und es stimmt, Massive Attack, die lose zusammengewürfelte Gruppierung um die Masterminds Robert "3D" Del Naja und Grantley "Daddy G" Marshall wirkt am Freitagabend in Berlin eher wie die Teilnehmer einer spontan anberaumten Jamsession denn als eine Band auf Tour.
Einen Vorwurf kann man Massive Attack daraus allerdings nicht machen, verstehen sie sich doch von jeher als DJ-Kollektiv. Die Musiker aus der englischen Hafenstadt Bristol agieren lieber im Hintergrund, weichgezeichnet von wabernden Nebelmaschinen. An der Rampe stehen stattdessen wechselnde Gastsängerinnen, manchmal wird auch einfach das Publikum angeleuchtet. Genau das mögen die Fans, denn das Tempodrom ist seit Wochen ausverkauft.
Die Stimmung erinnert an eine Clubnacht in den 90ern: Sit-ins auf dem Boden, viele offensiv knutschende Paare und eine erstaunliche Anzahl die gleichen Sneaker tragenden Männer bevölkern die Konzerthalle.
Zuerst betritt Martina Topley Bird die Bühne. Die ehemalige Sängerin von Tricky scheint die Massive-Attack-Fangemeinde bei ihrem gemütlichen Beisammensein zu stören. Mit einem vermummten Begleiter sorgt sie für einen minimalistischen Auftakt. Nur mit Trommel, Tamburin und einem Didgeridoo kreiert sie Sphärenklänge. Als Topley Bird mit blond gefärbtem Afro und in knallrotem Fünfziger-Jahre-Ballonkleid ihre glockenhelle Stimme mit einem Regenmacher begleitet, den sie beinahe erotisch vor dem Mikro dreht und wendet, reagiert das Publikum erst verhalten. Die Sängerin gewinnt die Menge doch noch, als sie ihre eigenen Backgroundstimmen einsingt und sampelt.
Massive Attack starten mit "Bulletproof Love", dem ersten Song ihrer neuen EP "Splitting the Atom". Robert Del Naja versteht es, das Publikum anzuheizen: "I love Berlin! It looks good, it feels good, it sounds good!" Haschischduft steigt auf. Grantley Marshall verkörpert in seiner Lederjacke englisches Workingclass Understatement.
Beim Auftritt von Reggae-Legende Horace Andy mit seinem unnachahmlich ins Falsett kippenden Vibrato ("Seeter") werden die anfangs zurückhaltenden Visuals zur monströsen Videoshow, die vom Geschehen auf der Bühne ablenkt. Im Hintergrund rattern Dollarbeträge vorbei, die die Diskrepanz zwischen Nahrungsmitteln, die einer Familie in Äthiopien pro Woche zur Verfügung stehen, und den Diäten von Politikern zeigen. Haltung demonstrieren Massive Attack auch bei ihrem Hit "Safe from Harm", als sie auf einem Videoscreen Zitate von Goethe, George Orwell und Nelson Mandela ("Die Menschen sind ihre eigenen Befreier") und bei "Inertia Creeps" mit Schlagzeilen zum Thema Überwachungsstaat einblenden. Fans wissen, dass Del Naja einer der aktivsten Unterstützer der englischen Anti-Kriegs-Bewegung ist. Ein wenig fade wirkt das zur Schau gestellte politische Engagement beim Konzert dennoch. Was, wenn die Künstler ihre salbungsvollen Gedanken in die Musik gepackt hätten, anstatt sie wohlfeil auf eine Leinwand zu projizieren?
Das war allerdings der einzige Wermutstropfen bei einem ansonsten süffigen Konzert. Beim in zahlreichen Fernsehserien verwursteten Song "Teardrop" herrscht andächtige Stille, Martina Topley Bird singt, inzwischen im gemusterten Kimono, und die Lichttechniker unterstützen den satten Sound mit Laserstrahlen, die den ganzen Raum ausleuchten und schließlich Sterne an die Kuppel des Tempodroms werfen.
Grandios auch die Gastsängerin Deborah Miller, die bei "Unfinished Sympathy" in einem sehr engen schwarzen Kleid beeindruckende Stimmgewalt an den Tag legt und sich bei einer Art Bauchtanz mit dem Tamburin selbst begleitet. Spätestens hier fangen auch die letzten nicht mehr ganz jungen Frauen an, sich am Rand der Tanzfläche (ja, Tanzfläche!) mit geschlossenen Augen im Rhythmus zu wiegen.
Nach der letzten Zugabe "Karmacoma" verschwinden Massive Attack binnen Sekunden von der Bühne, die Sängerinnen winken den Zuschauern noch einmal im Weggehen. Das Abschiedsjohlen des Publikums klingt dann verdächtig nach Fußballstadion, und genau wie echte Fußballfans werden auch die Fans von Massive Attack nächstes Mal wieder dabei sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos