: Massenhaft Beschwerden
Eine Reform soll das Bundesverfassungsgericht entlasten ■ Aus Karlsruhe Christian Rath
Trotz harscher Kritik am Kruzifix-Urteil und anderen höchstrichterlichen Sprüchen scheint das Vertrauen der Bevölkerung in das Bundesverfassungsgericht unerschüttert. Schiedssprüche aus Karlsruhe sind gefragt wie nie zuvor, Tausende von Verfassungsbeschwerden landen jährlich auf den Schreibtischen der höchsten RichterInnen. 1996 werden voraussichtlich 6.000 davon in Karlsruhe eingehen, dreimal so viele wie noch vor 20 Jahren.
In Karlsruhe jedoch fühlt man sich von dem Vertrauen der BürgerInnen erdrückt. Bei seinem Abschied im Mai brachte Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde die Stimmung auf den Punkt: „Die Situation ist in keiner Weise mehr verantwortbar. Bleibt sie weiterhin bestehen, muß das zum Kollaps, zum Zerfall des Gerichts von innen führen.“
Pro Arbeitstag würden die RichterInnen sich mit bis zu 47 Verfassungsbeschwerden befassen müssen. Ein derartiges Pensum, so Böckenförde, sei nur noch bewältigbar, wenn die RichterInnen immer häufiger „blind“ die Vorlagen ihrer wissenschaftlichen MitarbeiterInnen unterschrieben.
Inzwischen hatte Böckenfördes Mahnrede Erfolg. Das Justizministerium richtete eine Kommission ein, die ein Konzept zur Entlastung des Gerichts erarbeiten soll. Vorsitzender ist der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Benda. Am kommenden Montag wird in Karlsruhe am Rande des Deutschen Juristentages die Arbeit aufgenommen.
Der aussichtsreichste Entlastungsvorschlag orientiert sich am Vorbild des Supreme Court, des obersten Gerichts der USA. Dort entscheiden die RichterInnen selbst, mit welchen Eingaben sie sich beschäftigen wollen. Von 6.500 Anträgen, die durchschnittlich im Jahr beim Supreme Court eingehen, kommen letztlich nur 60 bis 70 zum Zuge.
Auf die Bundesrepublik übertragen schlug Exrichter Böckenförde folgende Regelung vor: „Der Senat nimmt eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, wenn mindestens drei Richter der Auffassung sind, daß die Entscheidung für den Grundrechtsschutz von Bedeutung ist.“ In der Benda- Kommission ist das Verfassungsgericht durch die RichterInnen Dieter Grimm (Erster Senat) und Karin Graßhof (Zweiter Senat) vertreten. Grimm hat in Interviews bereits klargestellt, daß auch er das freie Annahmeverfahren befürwortet. Bisher hat der Gesetzgeber die Entlastung des Verfassungsgerichts immer nach dessen Vorgaben und Wünschen geregelt.
Wie aber würden die BürgerInnen auf eine derartige Reform reagieren? „Es geht nicht um die Einführung des Lustprinzips“, versuchte Böckenförde im Vorfeld zu beruhigen. Und Dieter Grimm verweist auf die USA: „Dort spricht niemand von Willkür.“ Allerdings hatten die US-AmerikanerInnen bereits 70 Jahre Zeit, sich an dieses System zu gewöhnen.
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