Analyse: Maß und Revolution
■ Das Münchner Hofbräuhaus feiert seinen 100. Geburtstag
Revolutionäre Kunde ist anzuzeigen, und wie so oft kommt die Nachricht aus Bayern. „Ein Fest des Volkes“ steht ins Haus, genauer gesagt ins Hofbräuhaus. Eine internationalistische Institution der Massen feiert sich und ihre Geschichte. Die wuchtige und doch anmutige Zentrale subversiver Umtriebe aller Art, im Herzen Münchens gelegen, wird am 3. November 100 Jahre alt.
Bier und Bayern, das ist eine kulturgeschichtliche Dialektik, die schon Karl Marx in seinem berühmten Lehrsatz über den bayerischen Sonderweg zum Sozialismus ansatzweise erkannt hat: Eine Revolution in Bayern, so der Meister, sei nur vorstellbar, wenn dort der Bierpreis erhöht werde. Doch die Beziehung des trinkenden bayerischen Menschen zu seinem Grundnahrungsmittel ist komplexer. Es ist nicht allein der Preis der Ware, der das Subjekt zum Handeln treibt, es sind auch die spezifischen Eigenschaften des Gerstensaftes selbst, die den Bewußtwerdungsprozeß mitbestimmen. Kurz: Die Maß ist es, die das Maß der Rebellion bestimmt.
Nicht, daß es in Bayern keine Revolution gegeben hätte. Die bayerische Räterevolution etwa, wenn auch nicht direkt aufgrund einer Bierpreiserhöhung ausgebrochen, hat auch auf dem Gebiet der disziplinierten Selbstverwirklichung beim selbstbestimmten Trinken Maßstäbe gesetzt. So verdanken wir der Räterepublik die Entstehung eines urbayerischen Getränks, in dem die Tradition der Revolte maßvoll weiterlebt: Es handelt sich um die auch heute noch allseits beliebte „Russenmaß“, eine der „Radlermaß“ verwandte Mischung aus Bier und Limonade. Als die „Roten“, auch „Russen“ genannt, in jenen aufregenden Monaten zu Beginn des Jahres 1919 ihren revolutionären Umtrieben nachgingen, tranken sie zunächst vorzugsweise „Weiße“ (Weißbier – der Champagner unter den Bieren). Sei es aufgrund dieser bourgeoisen Konnotation, sei es wegen des Namens oder sei es, daß sie zur Aufrechterhaltung ihrer allzeit geforderten Aktionsfähigkeit weniger Alkohol zu sich nehmen wollten, auf jeden Fall beschlossen die roten Rätegarden, in ihr Weißbier Limonade zu gießen – die „Russenmaß“ war geboren.
Was lernen wir daraus? Bayerisches Bier, bayerisches Brauchtum und bayerisches Trinken ist ein klassenübergreifendes Phänomen, in dem anarchistische, sozialrevolutionäre, kommunistische (Lenin war in seiner Münchner Zeit ein gerngesehener Gast im Hofbräuhaus) und sozialdemokratische Traditionen mindestens ebenso enthalten sind wie jener dumpfe CSU-Lodenpopulismus, mit dem Auswärtige das bayerische Zechen gerne in eins setzen. Und wer je das Hofbräuhaus betreten hat, weiß, daß dieses mitnichten ein Bollwerk des Stoiberwaigelstraußkomplexes ist. An den derben Tischen der Schwemme sind im Laufe der Jahrhunderte immer intelligentere Gespräche geführt worden als je in der bayerischen Staatskanzlei. Möge das „Fest des Volkes“ im Hofbräuhaus dazu beitragen, Bayern und sein Bier im internationalen Gedächtnis von jener unheilvollen Verknüpfung mit der CSU endlich zu befreien. Thomas Pampuch
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