Martina Gedeck liest im Bunker: Erst Coventry, dann Kreuzberg
Wie erinnern an den 3. Februar 1945, als Berlin den bis dahin schwersten Luftangriff erlebte? Die Berliner Unterwelten haben zur Lesung eingeladen.
Täglich ein paarmal wanderten wir zur Trümmerstätte unseres Hauses und gruben mit eigenen Händen, da kein Spaten aufzutreiben war, nach unseren Kindern. (…) Wir fanden einen Knopf von Ottchens Pullover, Fingerknochen mit einem verschmorten Ring darauf, zarte Ober- und Unterschenkelknochen, den Bügel einer Handtasche, die Brille meiner Schwägerin, unsere Hausschlüssel, Nagelfeile, Nagelschere von Renilein. (…) Am nächsten Tag fanden wir Friedelschens Füßchen in seinen neuen Schuhen … verschmort. Später fanden wir einen Schädel, den wir für den unserer Thea hielten.“
Die Schauspielerin Martina Gedeck holt ein paar Mal tief Luft, dann liest sie diese vorletzte Passage aus den Erinnerungen von Hedwig Langer. Langer und ihr Mann haben beim Bombenangriff auf Berlin am 3. Februar 1945 ihre vier Kinder verloren. Nicht im Bombenhagel sind sie vor genau 80 Jahren umgekommen, sondern im Feuersturm danach.
Der Angriff an diesem Samstag war der schwerste, den Berlin im Zweiten Weltkrieg erlebte. Das Feuer verbrannte nicht nur das Mietshaus in der Oranienstraße, in dem die Langers gelebt hatten. Auch die Kreuzberger Luisenstadt, der Anhalter Bahnhof, das Zeitungsviertel, der Moritzplatz und das Exportviertel in der Ritterstraße waren in Schutt und Asche gelegt worden.
Noch vor dem Ersten Weltkrieg errichtete die AEG-Schnellbahngesellschaft einen Tunnel unter der Dresdener Straße. 1924 und 1925 wurde er ausgebaut. Es war geplant, dort einen Eingang zur neuen U-Bahn zwischen Gesundbrunnen und Neukölln (heute U8) einzurichten. Weil aber das Kaufhaus Wertheim am Moritzplatz ebenfalls einen Eingang wollte, wurde dieser nach Süden zur Ritterstraße verlegt. 1941 wurde aus dem Tunnel ein Luftschutzbunker. Er gehört heute zu den unterirdischen Routen in Berlin, die der Verein Berliner Unterwelten anbietet. Dafür hat der Verein 500.000 Euro in die Sanierung des Bunkers investiert. (wera)
Die Erinnerungen von Hedwig Langer stehen ganz im Zentrum einer ungewöhnlichen Gedenkveranstaltung, die der Verein Berliner Unterwelten am Montag im ehemaligen Luftschutzbunker in der Dresdener Straße organisiert hat. Sie ist, auch dank der Anwesenheit von Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD), so etwas wie der inoffizielle Auftakt Berlins zum Gedenken an 80 Jahre Kriegsende.
„Bombenwetter“ über Berlin
Doch wie erinnert man an einen Tag, an dem am Himmel über Berlin die Sonne schien, also „Bombenwetter“ herrschte? An einen Tag, an dem der Voralarm um 10.27 Uhr ausgelöst wurde und 13 Minuten später der Hauptalarm, da war schon deutlich geworden, dass die US Army Airforce von ihren britischen Stützpunkten aus einen Großangriff fliegen würde. 958 viermotorige Bomber hatten den Auftrag, das Regierungsviertel, das Zeitungsviertel sowie den Potsdamer und den Anhalter Bahnhof zu zerstören.
„Doch an diesem Tag herrschte ein starker Westwind“, sagt Dietmar Arnold, der Vorstandsvorsitzende der Berliner Unterwelten. Sein Verein hat nicht nur die Lebensgeschichte von Hedwig Langer recherchiert, deren ungeschönten Bericht Martina Gedeck vorträgt. Er kann inzwischen auch die Namen von über 5.000 Toten nachweisen, die an diesem Tag ums Leben gekommen sind. Auch Roland Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, gehört dazu.
„Der starke Wind hat den Bombenteppich um einige hundert Meter nach Osten verschoben“, sagt Arnold. Statt auf das Regierungsviertel traf die Last von 2.000 Tonnen Sprengbomben und 250 Tonnen Brandbomben auf die dicht bebauten und bis dahin nicht zerstörten Gründerzeitquartiere von Kreuzberg.
Dietmar Arnold, der die Gedenkveranstaltung im ehemaligen Luftschutzbunker am Montag eröffnet, erinnert auch an die Opfer des deutschen Bombenkriegs, an die Bombardierung des britischen Coventry, an Rotterdam, an die 55.000 Gefallenen der britischen Bomberbesatzungen. Fast die Hälfte des fliegenden Personals der Royal Air Force hatte im Krieg ihr Leben lassen müssen. Auch Jonathan Sear, Verteidigungsattaché der Britischen Botschaft, ist deshalb nach Kreuzberg zur Gedenkveranstaltung gekommen. Er sagt: „Heute stehen wir hier zusammen Schulter an Schulter, Deutsche und Briten.“
„Coventrisieren“ hat Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1940 die wahllose Zerstörung britischer Städte und ihrer Zivilbevölkerung genannt. Ein Kreuz aus – allerdings nicht originalen – Nägeln aus der zerstörten Kathedrale von Coventry wurde auch im Bunker in der Dresdner Straße angebracht. Spätestens 1943 kehrte dann das, was von den Nazis ausging, nach Deutschland zurück.
„Mir bot sich ein grauenvolles Bild. Tiefe Krater von den Bomben eingerissen, nicht krepierte Bomben, tote Pferde, Hunde, zerfetzte Menschenleiber, Menschenarme, menschliche Oberschenkel, geröstete Leiber, einen grauenhaft verkrümmten Manneskörper, der auf dem Bauche lag und Kopf und Beine in die Luft gestreckt hatte, der Rücken rotbraun geröstet. Auf der Bauchseite sah man Fetzen einer Strickjacke.“
Umgekommen im Feuersturm
Lange Zeit war unklar, ob es auch in Berlin einen Feuersturm gegeben hatte. Die breiten Straßen, aber auch die Luftverteidigung der Reichshauptstadt sowie die große Zahl an 10.000 Feuerwehrleuten hatten Berlin bis Ende 1944 vor einem Flächenbrand bewahrt, wie er zuvor große Teile der Hamburger Innenstadt im Juli 1943 in der „Operation Gomorrha“ der Royal Air Force zerstört hatte. 34.000 Menschen waren damals gestorben. Beim Feuersturm am 13. und 14. Februar 1945 in Dresden waren bis zu 25.000 Menschen ums Leben gekommen. Inzwischen aber gehen Dietmar Arnold und sein Team davon aus, dass es auch am 3. Februar 1945 in Kreuzberg einen Feuersturm gegeben hat. Ihre vier Kinder, die Hedwig Langer und ihr Mann in den Tagen nach dem Angriff aus den Trümmern gegraben hatten, waren nicht beim Luftangriff in den Mittagsstunden ums Leben gekommen, sondern in den Bränden in den Stunden danach.
Den Bombenangriff hatte Hedwig Langer in einem Luftschutzkeller verbracht. Ihre Kinder hatte sie bei der Schwägerin gelassen. Der ungenutzte U-Bahn-Tunnel in der Dresdener Straße, in dem die Gedenkveranstaltung stattfindet, war 1941 zu einem Bunker umgebaut worden, in dem 800 Menschen Schutz finden sollten. Am 3. Februar 1945 drängten sich dort 4.000 Menschen. Alle haben überlebt.
Hedwig Langers Kinder waren mit der Schwägerin in einem anderen Bunker. Nach dem Angriff hatten sie ihn verlassen und waren in die Wohnung zurückgekehrt. Doch dann kam das Feuer. Nachbarinnen hatten Langer mitgeteilt, dass die Kinder um 17 Uhr noch gelebt hatten.
„Wer damals getroffen wurde, entschied der Zufall“, sagt Franziska Giffey. Noch bevor Martina Gedeck mit ihrer Lesung beginnt, würdigt Berlins Wirtschaftssenatorin die Recherchen des Vereins Unterwelten. „Dass wir heute so viel über den 3. Februar 1945 wissen, liegt daran, dass wir bei Unterwelten Menschen haben, die sich darum gekümmert haben.“
Zwar war der mit Maschine geschriebene und nicht namentlich gekennzeichnete Text, der ganz nüchtern mit „Erinnerungen an den 3. Februar 1945“ überschrieben ist, bereits 1997 vom Hamburger Archiv „Reproducts“ entdeckt worden. Den Namen der Verfasserin aber haben erst die Berliner Unterwelten recherchieren können.
Demnach wurde Hedwig Langer, eine geborene Rautenberg, am 20. Juni 1925 in Preußisch Friedland geboren und lebte mit ihrem Mann Felix, einem Studienrat, in der Oranienstraße 113–114.
Auch das Grab der Kinder von Hedwig Langer konnten Dietmar Arnold und seine Leute ausfindig machen. Sie liegen auf dem katholischen Friedhof St. Hedwig II. in Weißensee. „Was aus Hedwig geworden ist, haben wir leider noch nicht herausgefunden“, sagt Arnold. Bekannt ist nur, dass sie ihren Bericht 1952 geschrieben hatte, im selben Jahr, in dem ihr Mann gestorben war.
Krieg ist wieder nähergerückt
Als „Teil der Berliner Erinnerungskultur“ bezeichnet Franziska Giffey den 3. Februar 1945. „Lange Zeit stand das Leid der Bevölkerung nicht im Fokus“, sagt die SPD-Politikerin, „auch aus Angst davor, das Leid der Shoa zu relativieren.“ Heute könne man beides tun. „Leid lässt sich nicht aufrechnen“, betont Giffey.
Die Senatorin erinnert auch daran, dass das Thema Krieg, das lange ein Thema der Vergangenheit war, seit dem russischen Krieg in der Ukraine wieder näher gerückt sei. „Frieden ist nicht selbstverständlich“, sagt Giffey und erwähnt auch die Menschen, die am Wochenende für Freiheit und Demokratie demonstriert haben. „Es geht gerade um sehr viel.“
Martina Gedeck senkt die Augen, nachdem sie die allerletzte Passage des Berichts vorgetragen hat. Sie schweigt. Kein Applaus. „Der Text ist ungemein bewegend“, hatte Gedeck schon einen Tag zuvor in einem Radiointerview gesagt. „Aber der Text ist auch hart“, hatte sie hinzugefügt.
„Wir sammelten alle diese Knochen und Knöchlein wie kostbare Reliquien und trugen sie nach Hause, um sie später einem Särglein zu übergeben. Als die Kriminalpolizei sich einmischte und mit einer Suchaktion nach Toten und deren Resten begann, forderte sie die kostbaren Reste unserer geliebten Kinder zurück. Wir brachten sie zurück und fanden sie später, als sie für die Bestattung freigegeben wurden, in Kochtöpfen vor.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!