Marokkaner erreichen spanische Exklave: Die Gendarmerie schaut tatenlos zu
Marokko lässt 6.000 Migranten schwimmend die Grenze zur spanischen Exklave Ceuta passieren. Rabat will damit Madrid unter Druck setzen.
Die Grenzpolizisten der marokkanischen Gendarmerie, die normalerweise den Zugang zu den nächsten Stränden Marokkos und damit zu den Buhnen verhindern, schauen tatenlos zu. So viele Menschen wie am Montag und Dienstag kamen noch nie in so kurzer Zeit in Spanien an, weder in Ceuta und Melilla, noch auf den Kanarischen Inseln oder an der südspanischen Küste.
Als handle es sich um eine sportliche Großveranstaltung, bilden sich immer längere Schlangen, um nach Ceuta zu gelangen. Die spanische Polizei mit ihren Hubschraubern, die Spezialeinheiten der Guardia Civil und die voll bewaffneten Soldaten der Legion mit ihren Schützenpanzern können die Menschen nicht aufhalten.
Viele von ihnen sind junge marokkanische Männer. Doch kommen auch immer wieder ganze Familien, manche mit Kleinkindern und selbst mit Babys. 1.500 derer, die nach Ceuta gelangten, sind, so erste Schätzungen der Behörden, unbegleitete Minderjährige. Mindestens ein Immigrant kam beim Versuch, Ceuta schwimmend zu erreichen, ums Leben.
Unterbringung in einem Fußballstadion
In Ceuta droht droht die Verbringung in ein Fußballstadion, das zum Notlager umfunktioniert wurde. Ein Auffanglager für Minderjährige in einer Lagerhalle am Tarajal ist nach Angaben des Roten Kreuzes völlig überfüllt.
Überall in der 85.000 Einwohner zählenden Stadt ziehen Gruppen von Marokkanern umher, suchen einen Platz zum Schlafen oder bitten um Essen. Wer sich auskennt, versucht sich zum Stadtteil El Principe durchzuschlagen. Dort lebt eine meist arabischstämmige Bevölkerung.
Der spanische Innenministerium verhandelt mit den Behörden in Rabat unter Hochdruck. Sie wollen versuchen, dass Marokko die Immigranten zurücknimmt, so wie es ein Abkommen von 1992, das seit 2012 mal mehr, mal weniger umgesetzt wird, vorsieht.
Tatsächlich habe Marokko, so verkündete am Dienstag Innenminister Fernando Grande-Marlaska, 2.700 Immigranten zurückgenommen. Zudem bewilligte Madrid der marrokanischen Regierung 30 Millionen Euro, um die illegale Einreise nach Spanien zu stoppen
Spaniens Ministerpräsident reist nach Ceuta
Sowohl der Präsident der autonomen Stadt Ceuta, Juan Vivas, als auch der spanische Regierungschef Pedro Sánchez haben angesichts der Lage jeweils Dienstreisen abgebrochen. „Mein vorrangiges Ziel ist es, die Normalität in Ceuta wieder herzustellen“, erklärte Sánchez am Dienstagvormittag auf Twitter, bevor er nach Ceuta flog, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen.
Bereits zuvor war die Legion ausgerückt und die Verlegung von 300 Polizisten nach Ceuta angeordnet worden. Die Kritik der konservativen Opposition, Sánchez würde nichts tun, sowie der Ruf der rechtsextremen VOX nach einem Einsatz der Armee liefen damit ins Leere.
Doch warum schauen Marokkos Grenzschützer untätig zu? Die Antwort ist für alle spanischen Medien klar, egal welcher Couleur: Der Ansturm sei die Reaktion Marokkos, „nachdem das Land seine Proteste wegen der Aufnahme des Führers der Polisario verstärkt hat“, schreibt etwa die größte Tageszeitung, El País.
Vergeltung für Krankenhausaufenthalt?
Es geht um den Chef der Befreiungsbewegung für die Westsahara und Präsidenten der in Flüchtlingscamps in Algerien ansässigen sahrauischen Exilregierung, Brahim Ghali. Seit Mitte April liegt der 73-Jährige in einem Krankenhaus in Nordspanien. Er wird dort auf Bitte Algeriens gegen Covid-19 behandelt.
Ghali ist für die Regierung in Rabat und Marokkos König Mohammed VI. der Staatsfeind Nummer 1. Rabat hält die frühere spanische Kolonie Westsahara, die zwischen Marokko und Mauretanien liegt, seit 1975 besetzt. Die Vereinten Nationen versuchten bisher vergebens ein Referendum über Unabhängigkeit oder Anschluss an Marokko abzuhalten.
Ein seit 1991 gültiger Waffenstillstand zwischen Polisario und Marokko wurde von der Befreiungsbewegung im November gebrochen. Seither herrscht wieder Krieg.
Als Madrid die Einreise des Polisario-Chefs Ghali genehmigte, drohte Marokko ganz unumwunden mit Repressalien. Am 26. April gelangten erstmals 128 junge Menschen schwimmend nach Ceuta. Anders als bei früheren Massenanstürmen auf den Grenzzaun in Ceuta und den der zweiten Exklave, Melilla, von wo jetzt auch einige Grenzübertritte gemeldet wurden, waren es keine Schwarzafrikaner, sondern alles Marokkaner.
Innenpolitischer Druck
Das ließ schon damals den Verdacht aufkommen, Marokko schaue einfach weg. Bei der Aufnahme Ghalis handle es sich „lediglich um eine humanitäre Angelegenheit“, erklärte am Montag zum wiederholten Mal Spaniens Außenministerin Arancha González Laya. Sie könne nicht verstehen, dass als Antwort „das Leben von Minderjährigen auf See gefährdet wird, wie wir in den letzten Stunden in Ceuta gesehen haben“.
Doch neben der Westsahara geht es Rabat auch um Ceuta und Melilla selbst. Für Marokko sind es „besetzte Gebiete“. Mohammed VI. verlangt immer wieder „die Rückgabe“ der Garnisonsstädte, die seit dem 15. Jahrhundert erst zu Portugal und dann zu Spanien gehören, lange bevor es Marokko in seiner heutigen Form überhaupt gab. Mit der Untätigkeit der Grenzpolizei erinnert Rabat Madrid daran, wie prekär die Lage der Exklaven ist.
Doch Marokko will nicht nur Druck gegenüber Spanien aufbauen. Was dieser Tage in Ceuta geschieht, ist auch ein Ventil, um sozialen Druck in Marokko selbst abzulassen.
Seit Frühjahr 2020 hat Rabat als Anti-Covid-Maßnahme die Grenzen zu den beiden Exklaven schließen lassen. Dies hat schwere wirtschaftliche Folgen für die umliegenden Dörfer und Städte.
Grenzschließung 2020 führte zu Protesten
Tausende Marokkaner arbeiten normalerweise in den spanischen Exklaven. Und über 10.000 – meist Frauen – schaffen auf ihrem Rücken riesige Bündel mit allerlei Waren Tag für Tag von Ceuta und Melilla nach Marokko. Insgesamt soll dieses Importgeschäft jährlich rund eine Milliarde Euro umfassen.
Im Februar kam es an vier Freitagen in Folge in Fnideq, der marokkanischen Nachbarstadt von Ceuta, zu Demonstrationen gegen die Grenzschließung. „Was für eine Schande! Ihr habt Fnideq ermordet!“, richteten sich die Protestierenden an die marokkanische Regierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien