: Marodes System
betr.: „Klassenziel Chancengleichheit verfehlt“ (Pisa-Länderstudie), taz vom 24. 6. 02
Die Informationsgesellschaft braucht mehr ausgebildete Arbeitskräfte als die Kinder der Bildungselite. Aufgabe der Schule muss es von daher sein, mehr Schüler zu erreichen und ihnen unter die Arme zu greifen, Lerntechniken zu vermitteln statt an veralteten Bildungskanons festzuhalten, damit mehr Schüler das Abitur ablegen. Das heißt auch mehr Studenten an die Universitäten statt Beschränkungen und Studiengebühren – und eine Universität, die sich als allgemeine Bildungsstätte statt lediglich als Brutstätte für akademischen Nachwuchs sieht.
Denn das Problem reicht über die Schulen bis auf den Arbeitsmarkt und die gesamte Gesellschaft hinaus. Auf die wachsenden Arbeitslosenzahlen in Schweden in den 90er-Jahren reagierte die sozialdemokratische Regierung mit Ausbildungsangeboten: Anreize, um das Abitur nachzuholen, Computerschulungen für Arbeitslose, extra Studiendarlehen, die ein Überleben als Student auch mit Familie sicherten, und Hochschulgründungen in krisengeschüttelten ehemaligen Industriestädten. Ergebnis: Wer sich weiterbildete, hatte allein durch die gewonnene Flexibilitität mehr Chancen auf eine neue Arbeit. Die Arbeitslosenquote ist von zehn Prozent Mitte der 90er auf vier Prozent gesunken.
Doch in Deutschland werden Bildungskrise, Arbeitsmarktkrise, Umstrukturierung der neuen Bundesländer stets reihum als getrennte Probleme diskutiert. Sämtliche Reformvorschläge laufen darauf hinaus, in einem maroden System dem Einzelnen die Verantwortung in die Schuhe zu schieben. Der soll sein Leben selbst am eigenen Schopf aus dem aus dem Sumpf eines überholten Systems ziehen.
Doch von radikalen übergreifenden Reformen ist Deutschland weiter entfernt denn je. […] BEATE SCHIRRMACHER, Berlin
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