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■ Nebensachen aus PragMarktwirtschaftliches Urinieren

Als 1989 die Neuerer kamen und erzählten, die alte ideologische Linie sei falsch, hatten sie auch schon gleich eine neue zur Hand. Da würde all das zum Geldverdienen geeignet sein, was bisher nur Verluste verursacht hatte. Man müsse es nur dem freien Unternehmergeist überlassen. Und der unsichtbaren Hand des Marktes.

Die Uferpromenade am Prager Nationaltheater und an der Brücke der Legionen verläuft auf hohen Aufbauten, die seit mehr als 100 Jahren zum Hochwasserschutz der Alt- und Neustadt gehören. Dort konnte früher jedes Hochwasser ungehindert in die Stadt fließen – heute ist eine zehn Meter hohe Mauer davor, auf der der Brückenkopf endet und der Verkehr pulsiert. Im Zwischendeck dieses Hochufers ist seit Menschengedenken eine Toilette, die jeder Prager kennt. Viele Besucher des alten Café Slavia, das nun wieder geöffnet ist, trugen ihre Trinkerlast hierher und liefen auf dem Nachhauseweg schnell das Treppchen über dem Wasser hinunter. Doch seit Jahren ist diese Zuflucht geschlossen. Die unsichtbare Hand des Marktes fand keinen Pächter, der der Stadt eine Miete zahlen würde. Wer das Nationaltheater von der Brücke aus anguckt, sieht im Vordergrund, unterhalb des Straßenniveaus, die Mauer des Hochufers, gebaut aus großen gefugten Steinen. Ein Balkönchen in der Mitte, über eine Außentreppe erreichbar, ist die Toilette. Und vom Rand der Plattform zieht sich eine bogenförmige helle Spur zum Wasser. Hier fehlen auch die Fugenfüllungen. Viele Bedürftige fanden sich vor der geschlossenen Tür der Bedürfnisanstalt wieder.

Ist eine Urinpatina etwas Problematisches? Wer weiß. Hundert Meter stromabwärts von hier ist die Stelle, wo vor rund 20 Jahren ein anderer Abschnitt des Hochufers, zusammen mit der darauf geführten Straße, zusammenbrach. Auch hier hat etwas die Mauerfugen herausgewaschen. Beachtet wurde erst das Ergebnis, nicht die subtilen Ursachen im Vorfeld.

Kürzlich trat nun eine neue Regierung die Amtsgeschäfte an, nachdem die alte abtreten mußte. Der Gedanke, wie eine marktwirtschaftliche Regulierung des Urinierens aussehen soll, ist noch nicht reif und wird wohl auch von dieser Regierung nicht gelöst, genausowenig wie die Parteienfinanzierung.

In Prag stinken jedenfalls nicht nur die Parteispenden, sondern auch gewisse Ecken. Und deswegen, aber auch wegen der raffgierigen Taxifahrer, der verdoppelten Hotelpreise und anderer Manifestationen der neuen Freiheit, reduzierte die unsichtbare Hand des Marktes im vergangenen Jahr die Zahl der Übernachtungen in der Stadt. Daß die unsichtbare Hand des Marktes auch einmal den Absichten der Regierung zuwiderläuft, erscheint vielen ungehörig.

In Prag streitet man immer noch über die Ursache des Sturzes der Regierung Klaus. Ich sage: Sie schaffte es nicht, die richtige Theorie des Marktes auf das Urinieren anzuwenden. Die Stadtverwaltung hat jedenfalls reagiert – der Zugang zu der nicht-existierenden Toilette ist seit einiger Zeit gleich oben von der Straße her gesperrt. Wer es eilig hat, muß woanders eine günstige Ecke suchen. Aber so ein Gittertürchen ist doch wieder ein Schritt zurück von der grenzenlosen Freiheit. Jaroslav Šonka

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