Berliner Szenen: Markthalle für Rentner
Nachschlag
Obwohl ich keinen Fisch esse, flüchtete ich neulich vom Ramsch der Wilmersdorfer Straße ins Rogacki, Charlottenburgs erste Aal- und Fischräucherei. Schon beim Eintreten fühlte ich mich zurückversetzt in eine Zeit, in der es noch grüne Lacktischdecken und Matjesfilet nach Hausfrauenart zum Mittagessen gab. Die Mischung aus Stehimbiss und Delikatessenhandel erinnerte mich an eine Art Markthalle Neun für Rentner. An den Wänden: Schwarzweißfotos vom Vor- und Nachkriegs-Rogacki.
An einem Stand bestellte gerade eine ältere Kundin 200 Gramm Räucherlachs. Die Verkäuferin informierte sie, dass die Tüten jetzt 10 Cent kosten. „Aha, na gut, wenn’s denn sein muss“, meinte die Kundin, während sie ihren Geldbeutel aus der Handtasche angelte. „Wissen Sie, ich bin treue Kundin hier seit 1965. Damals war ich noch Nachbarin von Baader und Ensslin in der Fritschestraße.“ Ich, die das Gespräch mitgehört hatte, fragte die Kundin, ob sie denn auch die beiden persönlich kannte. „Nein, nicht wirklich“, sagte sie. „Nur hatte ich zu der Zeit auch ein Kleinkind wie Ensslin, und wir haben uns oft mit Kinderwagen in der Nachbarschaft getroffen. Mehr als eine kurze Begrüßung war aber nicht drin.“ Drinnen, im Rogacki, füllte es sich. Ein Nachmittag unter der Woche. Viele Einzelgänger, die mit leeren Blicken und vollem Weinglas auf die Garküchen im Raum blicken. Man schweigt, man trinkt, man isst. Da ich keinen Fisch esse, setzte ich mich an den Tresen und bestellte ein Glas Wein.
Ob ich hier öfter bin, fragte mich ein älterer Herr neben mir. „Nein, ich bin hier zum ersten Mal“, antwortete ich. Dass ich neu bin, spürte ich, als mir mit der Rechnung mein Weinglas wieder halbvoll gemacht wurde. Irritiert schaute ich zu meinem Tresennachbarn, der mir zuflüsterte: „Deswegen bin ich so gerne hier!“ Eva Müller-Foell
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