Marco Bellocchio über seinen neuen Film: „Es macht mich immer noch wütend“
„Die Bologna-Entführung“ schildert den wahren Fall eines vom Papst geraubten jüdischen Jungen. Regisseur Bellocchio erzählt, wie die Kirche ihn geprägt hat.
Im italienischen Kino gehört Marco Bellocchio, der vergangene Woche seinen 84. Geburtstag feierte, ohne Frage zu den Altmeistern. Bereits acht Mal war der Regisseur im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes vertreten. So auch dieses Jahr mit seinem Film „Die Bologna-Entführung – Geraubt im Namen des Papstes“, der eine wahre Geschichte aus dem Jahr 1858 erzählt.
An der Croisette, wo wir Bellocchio zum Interview trafen, ging das Historiendrama leer aus, wurde aber im Juni zum großen Abräumer beim von italienischen Filmjournalist*innen vergebenen Nastro d’Argento.
Der Regisseur Marco Bellocchio wurde 1939 in Bobbio geboren. In den 50er und 60er Jahren studierte er Film in Rom und London. Sein Debütfilm „I pugni in tasca“ (Mit der Faust in der Tasche) wurde 1965 beim Filmfestival von Locarno mit dem „Silbernen Segel“ ausgezeichnet. 2018 wurde er in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die die Oscars vergibt.
taz: Herr Bellocchio, wenn man als Regisseur – wie Sie nun mit „Die Bologna-Entführung“ – eine historische Geschichte verfilmt, erzählt man dann immer auch etwas über die Gegenwart?
Marco Bellocchio: Wenn mich eine Geschichte, die in der Vergangenheit spielt, so sehr fasziniert, dass ich einen Film daraus machen will, denke ich zumindest drüber nach und frage mich: Woran liegt das? Was hat mir diese Story denn heute noch zu sagen? Abgesehen davon zwingen einen Produzenten und Geldgeber meistens dazu, sich dazu Gedanken zu machen, denn die wollen bei jedem Film wissen, was daran erzählenswert ist und wer sich das angucken wird. Aber ehrlich finde ich das mit dem Bezug zur Gegenwart zweitrangig. Ich will nicht überheblich klingen, aber wenn ich so bewegt von einer Geschichte bin, dass ich einen ganzen Film drehen möchte, dann ist das für mich als Motivation absolut ausreichend.
Auch Regisseure wie Steven Spielberg oder Julian Schnabel waren daran interessiert, von der Entführung des jungen Edgardo Mortara zu erzählen, der 1858 seiner jüdischen Familie durch Soldaten des Papstes entrissen und fortan im katholischen Glauben erzogen wurde. Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, dass sich nun stattdessen ein Italiener dieses Stoffs angenommen hat?
Ich weiß gar nicht, ob ich das unterschreiben würde. Dass am Ende ich den Film gemacht habe, lag nicht daran, dass ich Italiener bin, sondern einfach am glücklichen Timing. Hätte Spielberg sein Projekt nicht irgendwann fallen lassen, hätte ich mich der Geschichte nie angenommen. Mich in Konkurrenz zu einer Hollywoodproduktion zu begeben, die ein deutlich höheres Budget gehabt hätte, wäre ja ziemlich unsinnig gewesen.
„Die Bologna-Entführung“. Regie: Marco Bellocchio. Mit Paolo Pierobon, Fausto Russo Alesi u. a. Italien/Frankreich/Deutschland 2023, 134 Min.
Es scheint im Film, als seien Sie fasziniert von religiösen Ritualen. Kommt da auch Ihre eigene Prägung durch?
Heute ist es im Katholizismus nicht mehr weit her mit den Ritualen, die werden ja kaum streng befolgt. Aber in meiner Kindheit und Jugend sah das noch ganz anders aus. Auch das natürlich nicht vergleichbar mit der Zeit und den Erlebnissen des jungen Edgardo Mortara, die ich nun im Film zeige. Doch zumindest ging es vor 75 Jahren noch so streng zu, dass ich beim besten Willen nicht die Chance gehabt hätte, zum Protestantismus oder irgendeiner anderen Religion zu wechseln. Es gab keinen Weg, dem Katholizismus zu entkommen. Gebete, Sakramente, Messen, Beerdigungen – alles wurde nach strikten Regeln begangen, aus denen kein Ausbrechen möglich war, denn es drohte ja immer die Verdammnis. In diesen Verpflichtungen und Zwängen, die ich mir nie freiwillig ausgesucht habe, liegen meine Ablehnung der Kirche und der Verlust meines Glaubens verwurzelt. Und es macht mich immer noch fürchterlich wütend, dass man sieben- oder achtjährigen Kindern damit droht, dass sie in der Hölle brennen werden, wenn sie sich an diese Sachen nicht halten.
Erstaunlicherweise lassen Sie trotz dieser Wut in „Die Bologna-Entführung“ sogar humorvolle Momente zu. An einer Stelle etwa hat der Papst eine Art Albtraum und fürchtet, jüdische Eindringlinge im Vatikan würden ihn beschneiden wollen!
Das basiert auf einer Karikatur, die damals zu dem Fall in einer US-amerikanischen Zeitung erschienen ist. Der Papst ist im Film von dieser Vision so nachhaltig verschreckt, dass er sich danach direkt noch ein zweites Mal taufen lässt. Einfach, um wirklich abgesichert zu sein! Diese Szene bringt mich immer noch zum Lachen, auch wenn ich sie mindestens zweihundertmal gesehen habe. Ebenso, wenn Edgardo in seiner überschwänglichen Begeisterung für den Papst eben diesen zu Fall bringt. Solche Szenen sind mein Versuch, dem Realismus nicht zu sehr verhaftet zu bleiben. Da lebe ich meine künstlerische Freiheit aus.
Fast im Gegensatz dazu ist die Musik, die im Film zum Einsatz kommt, geradezu klassisch, mit epischen, imposanten Orchesterklängen …
Es ist ja nun einmal auch eine sehr dramatische Geschichte von großer Tragik. Und trotz aller Freiheiten, die ich mir herausgenommen habe, auch eine wahre. Deswegen wünschte ich mir vom Komponisten Fabio Massimo Capogrosso möglichst melodramatische Filmmusik. Wobei wir in diesem Fall auch sehr viele schon existierende Kompositionen verwendet haben. Um genau zu sein: Werke von Schostakowitsch, Rachmaninow und Avo Pärt. Das entsprach nicht nur meiner künstlerischen Vision, sondern hatte auch den Vorteil, dass ich bereits im Schneideraum für viele Szenen die passende Musik hatte. Das ist sonst, wenn der komplette Score erst für den fertigen Film komponiert wird, ja meist nicht der Fall, was ich immer sehr bedauere.
Sie betonten jetzt mehrfach Ihre Freiheiten als Geschichtenerzähler. War es Ihnen nicht wichtig, mit „Die Bologna-Entführung“ historisch korrekt zu sein? Gerade weil dieser Fall in der jüdischen Geschichte ja auch stellvertretend für eine fürchterliche wie lange Tradition erzwungener Taufen steht?
Ich bin ganz ehrlich: Mir ging es bei diesem Film nur um diese spezifische Geschichte, nicht um Ideologie und auch nicht um explizite Papstkritik. Es war nicht die Absicht, all das Unrecht zu repräsentieren, was den Jüdinnen und Juden durch die katholische Kirche widerfahren ist. Selbst wenn all das natürlich implizit in dieser Geschichte mitschwingt. Dass Mortara aus seiner eigenen Familie entführt wurde, war ja übrigens keine willkürliche Tat, sondern erfolgte seitens des Papstes nach einer zwingenden Logik. Denn Edgardo war als Baby von seinem christlichen Kindermädchen getauft worden – und wer getauft war, musste nun einmal als Christ aufwachsen. Viel spannender als die Motivation des Papstes und seiner Leute ist also die Frage, warum Mortara zu Lebzeiten dann später nie rebelliert hat oder zu seiner Familie zurückgekehrt ist. Und nicht nur das: Er nahm später, als er zum Priester geweiht wurde, sogar den Namen Pius an. Wie der Papst, der ihn hatte entführen lassen!
Haben Sie und Ihre Ko-Autorin Susanna Nicchiarelli diesbezüglich viel recherchiert?
Wir haben ganz allgemein sehr gründliche Recherchen betrieben und uns nicht ausschließlich auf das Buch „Der Fall Mortara“ von Daniele Scalise verlassen, das die Hauptgrundlage für den Film darstellt. Wir haben auch gelesen, was David Kertzer in „Die Entführung des Edgardo Mortara“ und andere jüdische Autoren und Historiker über diese Geschichte geschrieben haben. Und gewisse Szenen im Film, etwa die Wiederbegegnung mit der Mutter, haben wir Mortaras Autobiografie entnommen.
War Italiens jüdische Gemeinde in irgendeiner Weise in die Arbeit am Film involviert?
Selbstverständlich, allen voran Elèna Mortara, Mortaras Urgroßnichte, mit der wir ein sehr langes Gespräch geführt haben. Und wir haben auch Nachforschungen angestellt zu anderen Zwangstaufen, die damals ja keine Seltenheit waren. Später am Set hatten wir immer einige jüdische Berater mit im Team, um wirklich sicherzustellen, dass wir alle Rituale, Bräuche, Gebete und ähnliches korrekt darstellen und inszenieren. Denn zumindest das waren Elemente des Films, die ich nicht künstlerisch frei, sondern so real wie möglich darstellen wollte.
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