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Marathon vs. AutoverkehrHeute gehört die Straße uns

Wenn am Sonntag in Berlin Hunderttausende auf die Straße gehen, ist das keine Demo für eine bessere Verkehrspolitik. Aber vielleicht ein Denkanstoß.

Wie ruhig es auf diesen Boulevards sein kann, wenn man nur Getrappel von Fußsohlen vernimmt: Szene beim Berlin-Marathon 2019 Foto: Simone Kuhlmey/imago

A uf dem Weg zum Bioladen hätte es mich fast erwischt. „Es“ war in diesem Fall ein getunter weißer Mercedes, die die Hauptstraße im Berliner Bezirk Schöneberg entlangröhrte. Als er noch hundert Meter entfernt war, stieg ich von der Mittelinsel auf die Straße.

Der Fahrer sah mich und gab Gas, hielt direkt auf mich zu. Als ich mich gerade zwischen zwei parkenden Autos in Sicherheit brachte, raste er knapp hinter mir vorbei. Wäre ich langsamer geworden oder gestolpert, würde wohl eine Kollegin in dieser Kolumne über das Mordwerkzeug Personenkraftwagen schreiben. Ich jedenfalls blickte auf die frischen blauen Streifen, die gerade auf die Straße gemalt worden waren und dachte: „Du Arsch, am Sonntag gehört die Straße mir.“

Denn am Sonntag ist wieder Marathon in Berlin. Zehntausende Verrückte wie ich werden sich über eine Strecke quälen, die viele Menschen nicht freiwillig mit dem Fahrrad zurücklegen. Hunderttausende werden dabei mit uns feiern. Warum wir das machen, ob das gesund ist, worauf wir uns da einlassen und was das alles kostet, darüber reden wir jetzt nicht. Sondern darüber, wie gut es tut, eine Stadt wie Berlin auf diese Weise lahmzulegen. Beziehungsweise auf die Beine zu bringen.

Ein solcher Stadtlauf bringt ganz neue Eindrücke: Wir haben Vorlauf auf den großen Rennstrecken der Stadt, wo wir sonst Freiwild sind. Die Polizei schützt ausnahmsweise mal die Fußläufer vor den Autofahrern. Wir merken, wie zügig man von einem Berliner Kiez in den nächsten kommen kann, wenn der Motor die eigenen Beine sind. Wir hören, wie ruhig es auf diesen Boulevards sein kann, wenn man nur Getrappel von Fußsohlen vernimmt. Wir spüren schmerzhaft, wie kaputt die Straßen sind, wenn wir in Schlaglöchern und Spurrinnen umknicken. Und wir denken: Diese Stadt könnte sich auch anders anfühlen.

Riesenzirkus mitten in der Stadt

Selbstverständlich ist der Marathon ein Riesenzirkus mit Kommerz, Trubel, Doping und Zumutungen für die Leute, die sich frei bewegen wollen. Aber genau das ist der normale Wahnsinn des Autoverkehrs an den anderen 364 Tagen auch. Und jede Demo, Fahrradsternfahrt, Tanzparty oder großflächige Baustelle durchbricht den Alltag einer Stadt, die für die Bedürfnisse von rasenden Blechkisten gestaltet ist. Und wo „Verkehrsnachrichten“ im Radio in der Regel Meldungen rund um den Autoverkehr sind.

Aber weil wir den Platz vor unserem Haus schon lange an die stehenden und fahrenden Maschinen verloren haben, sind wir froh darüber, wenn der Asphalt mal wieder für einen Moment uns gehört. Wenn da einfach Platz und Zeit ist, um irgendwas oder gar nichts zu tun, Freunde zu treffen, in den Himmel zu gucken ohne Angst, überrollt zu werden. Das dürfen wir sonst nur im Urlaub in mittelalterlichen Städten, die zu eng für Autos sind oder in diesen seltenen Menschenschutzgebieten namens „Fußgängerzonen“.

Vielleicht hat die Epidemie von City-Läufen ja auch etwas mit diesem „Reclaim the Streets“-Gefühl zu tun: Wenigstens am Sonntag gehört die Straße mal für ein paar Stunden mir und meinen Kindern. Klar: Wir brauchen ein neues Verhältnis von Mensch und Auto. Auf meinen Laufschuhen steht auch was von einer „New Balance“. Und man sollte das Potenzial für Revolte beim Berlin-Marathon nicht unterschätzen. Er hat immerhin schon mal die letzte ­Bundestagswahl sabotiert.

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Bernhard Pötter
Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).