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■ Mann des Jahres: Tony Blair enttäuscht. Er verspielt mit Skandalen, Selbstherrlichkeit und Doppelmoral das Vertrauen der BevölkerungAbstieg des Gipfelstürmers

„Weihnachten kam dieses Jahr sehr früh“ – daneben der ewig lächelnde Premierminister Tony Blair vor der Downing Street 10. Diese Postkarten wurden auf dem Parteitag der britischen Labour Party im Oktober verteilt. Inzwischen glauben immer weniger Briten an den Weihnachtsmann.

Tony Blair, der Aufsteiger des Jahres, verspielt das Vertrauen der Bevölkerung. Da war zunächst die Pfundmillion, die er vom Autorennboß Bernie Ecclestone kassierte und dafür die Branche vom Tabakwerbeverbot befreite. Als die Tories noch regierten, nannte Labour so etwas schlicht Bestechung. Doch wenn Tories und Labour das gleiche tun, so ist es nach der neuen Logik von New Labour noch lange nicht dasselbe. Statt sich zu erklären, verlangt Blair: Glaubt an mich! Warum? Ganz einfach: Was Labour macht, ist per se richtig, schließlich ist man ja nicht die Tory-Partei. Basta!

Nach demselben Prinzip verteidigt die Regierung die Kürzungen für alleinerziehende Mütter. Lief Labour im letzten Jahr noch Sturm gegen entsprechende Pläne der Konservativen, ist das jetzt in Ordnung. Als die BBC bei der zuständigen Ministerin Harriet Harman nachfragte, was denn diesen Meinungsumschwung bewirkt habe, reagierte Labour, als habe der Sender eine Blasphemie begangen. Regierungssprecher David Hill kündigte der „Today“-Radiosendung die Zusammenarbeit auf. Ein solch schwerwiegender Eingriff in die Medienfreiheit verblüffte selbst die Labour-Gefolgschaft.

Wenn Blair die Hörer in Selbstüberschätzung seiner Popularität und Macht auf seiner Seite wähnt, so irrt er. Sie mögen es zwar nicht, wenn Otto Normalverbraucher von einem Reporter in die Mangel genommen wird, doch bei Politikern liegt die Sache anders. Blair glaubt offensichtlich, das Land genauso regieren zu können wie seine Partei. Wenn er in der Labour Party immer mehr Macht an sich reißt und Kritiker mundtot macht, ist das legitim, solange das Fußvolk mitspielt. Doch als Regierungschef ist er rechenschaftspflichtig. Es zeugt von Arroganz, daß man „Today“ künftig keine Interviews mehr geben will, nur weil die Sendung eine Ministerin als Dünnbrettbohrerin entlarvt hat.

Wird New Labour die Klassengegensätze, die in knapp zwanzig Jahren Tory-Regierung an Schärfe gewonnen haben, mildern? Auszugleichen gäbe es mehr als genug. Dank Privatisierung und Steuerreform ist die Schere zwischen Arm und Reich erheblich größer geworden, hat sich unter dem Thatcherismus eine neue Klasse der Superreichen formiert. Parallel dazu stieg die Zahl der Dienstboten: Vor zehn Jahren gaben britische Haushalte 524 Millionen Pfund für Putzhilfen, Köche und Gärtner aus, heute sind es knapp vier Milliarden Pfund. Die Oberschicht residiert seit dem Mittelalter in London, doch nie war die Konzentration größer als heute. Im Windschatten der City – jener Quadratmeile, wo die Geldsäcke sitzen – haben auch andere Branchen ihre Schäfchen ins trockene gebracht. Ein Beispiel: Von den 30 größten Anwaltskanzleien sitzen 24 in London, zwei Drittel aller plädierenden Anwälte leben und arbeiten in der Hauptstadt und Umgebung. Man hat sich seine eigene Infrastruktur geschaffen. Da kommt der Einfluß auf die Regierungspolitik von ganz alleine, man muß sich gar nicht selbst die Hände in der Politik schmutzig machen – siehe Ecclestone. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob der Premierminister ein Tory oder ein Labour- Mann ist.

Blair ist an einer grundlegenden Korrektur der verheerenden Tory- Politik nicht interessiert, er begnügt sich mit symbolischen Gesten. Beispiel Gesundheitssystem, das im nächsten Jahr sein 50. Jubiläum feiert: Es steht vor dem Kollaps. Trotzdem hat Labour die Reform verschoben und lediglich einen Notgroschen für den Winter bewilligt, damit nicht wieder so viele alte Leute schlagzeilenträchtig sterben. Das Gesundheitswesen ist der größte Arbeitgeber im Vereinten Königreich, doch es funktioniert nach der alten Klassentrennung – und zwar an beiden Enden der Operationsschere. Ungelernte Arbeiter und ihre Kinder sterben zum Beispiel erheblich früher als Facharbeiter. Und während Hunderte von Ärzten das Gesundheitssystem mit einem Jahreseinkommen von 500.000 Mark strapazieren, wurden die Löhne des Reinigungspersonals in Krankenhäusern auch unter New Labour nicht erhöht. Sie verdienen weniger als 20.000 Mark im Jahr.

In der Privatwirtschaft sahnen die Topmanager weiter ab. Als sie noch Opposition war, hatte sich Labour über die „Fat Cats“ entrüstet. Auf Maßnahmen, diese Entwicklung einzudämmen – etwa indem man eine Vertretung der Angestellten in den Gehaltsausschüssen zur Pflicht macht –, wartet man vergeblich. Die Sozialleistungen dagegen sind an den Preisindex und nicht an die Lohnentwicklung geknüpft. Dadurch fallen Arbeitslose und Empfänger einer Staatsrente immer weiter zurück.

Nehmen wir das Schulsystem als ein weiteres Beispiel, wie wenig von Tony Blairs Versprechen übrig geblieben ist: In keinem anderen westlichen Land hängt Bildung so stark von Status und Einkommen der Eltern ab, nirgendwo anders herrscht solch eine strikte Trennung von staatlichen und privaten Schulen, die euphemistisch als „public schools“ bezeichnet werden. Nur sieben Prozent aller Kinder besuchen private Schulen, aber sie stellen die Hälfte aller Studenten in Oxford und Cambridge. Unter den 200 Schulen mit den besten Abiturnoten waren 178 Privatschulen. Blairs Bekenntnis zu den staatlichen Schulen klingt hohl, wenn er gleichzeitig seine eigenen Kinder von der nächstgelegenen staatlichen Schule abmeldet und sie auf eine Privatschule schickt. Vor hundert Jahren lautete eine Maxime der offiziellen Bildungspolitik, daß „die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen eine unterschiedliche Ausbildung“ benötigen. Daran hat sich auch unter Labour nichts geändert. Von Chancengleichheit keine Spur – im Gegenteil: Britanniens Schulen sind ein Instrument der Segregation. Von Blairs Schlagwort im Wahlprogramm – „Bildung, Bildung, Bildung“ – ist eine Gesetzesänderung übrig geblieben, wonach Eltern ihre Kinder wieder prügeln dürfen.

Die Engländer lieben Anagramme. Aus dem Namen der früheren Tory-Gesundheitsministerin Virginia Bottomley machten sie: „I'm an evil Tory bigot“ – ich bin eine üble Tory-Blindgläubige. Blairs offizieller Titel lautet „Tony Blair PM“, wobei „PM“ für „Prime Minister“ steht. Das Anagramm: „I'm Tory Plan B“ – ich bin der Ersatzplan der Tories. Ralf Sotscheck

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