Mangelnde Hilfe gegen Leseschwäche: Trotzdem Nobelpreisträger
Jacques Dubochet leidet an Dyslexie und wurde doch Honorarprofessor. Ein besseres Bildungssystem könnte die Schwäche leichter ausgleichen.
Es ist eine sonderbare Angewohnheit. Immer wenn raus kommt, dass jemand Berühmtes schlecht in der Schule war, wird das mit einer Mischung aus Bewunderung und Häme goutiert. Christian Wulff sitzengeblieben? Dann kann ich auch noch Bundespräsident werden! Thomas Mann Schulabbrecher? Dafür schreibt er aber gut! Auch für den diesjährigen Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet aus der Schweiz wird da keine Ausnahme gemacht. „Schulversager“, titelt dpa, als ob das Dubochets Leistungen in ganz neuem Licht erscheinen ließe. Dabei trifft das Wort auf den Honorarprofessor an der Uni Lausanne gerade nicht zu.
Denn Dubochet ist Legastheniker, hat also eine Lese-Rechtschreibschwäche. Oder präziser: Er leidet an Dyslexie, Leseschwäche. Eine Erkrankung, die vererbt werden kann – und nichts mit der Intelligenz einer Person zu tun hat. Was bei einem Nobelpreisträger einleuchtetet, nicht aber zwangsläufig bei einem 14-Jährigen. Doch Jacques hatte Glück. Als er in den 50er Jahren Buchstaben und Wörter vertauscht und sehr langsam vorliest, erkennt sein Lehrer die Leseschwäche. Hätte er in Jaques nur einen dummen oder faulen Schüler gesehen – der heute 75-Jährige wäre wohl nie bis an die Uni gekommen.
Und das ist auch gute 60 Jahre später nicht viel anders. Eines von 20 Schulkindern, schätzen Neuropsychologen, haben an deutschen Schulen eine Form der Lese-und Rechtschreibstörung. Wird sie festgestellt gilt: Die Schülerin oder der Schüler hat Anrecht auf einen „Nachteilsausgleich“. Etwa mehr Zeit bei Prüfungen oder der Verzicht auf eine Rechtschreibnote. Das Problem: Die Beeinträchtigung müssen die Eltern beantragen oder die Lehrkraft empfehlen – und das geschieht viel zu selten, klagt der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL).
Teils, weil Eltern die Karriere ihres Kindes gefährdet sehen, wenn sich im Zeugnis ein entsprechender Vermerk findet. Zum Teil, weil die Lehrkräfte nicht geschult – oder überlastet – sind. Und selbst wenn die Krankheit erkannt würde, täten sich viele Schulen schwer, individuelle Förderkonzepte auszuarbeiten und umzusetzen. Gründe dafür: der chronische Lehrermangel an deutschen Schulen, mangelnde Förderqualifikationen, der zunehmende Betreuungsaufwand für LehrerInnen in inklusiven Klassen.
Mit der Folge, dass sich manche Eltern ohne fremde Hilfe – oder mit der falschen – durchwursteln. Was Kinder- und Jugendpsychiater der Uniklinik München zu einer Warnung veranlasst: Homöopathie, Akupressur, Osteopathie, Nahrungsergänzungsmittel, Prismenbrillen, Farbfolien, etc seien keine geeigneten Therapien, heißt es in einer Leitlinie zur Lese-und Rechtschreibschwäche aus dem Jahr 2015. Was hingegen hilft: An den „Symptomen ansetzen“ und frühzeitig fördern. Sprich: üben, üben, üben.
Jacques Dubochet
Und: ein offener Umgang damit. Vielleicht helfen dabei sogar die Vorstöße aus verschiedenen Bundesländern, von den klassischen Schulnoten wegzukommen und sie durch ein Bündel an „Einzelkompetenzen“ zu ersetzen. Eine Schülerin oder ein Schüler mit einer Leseschwäche kassiert dann deshalb nicht automatisch eine schlechtere Note im Fach Deutsch. Das motiviert und beugt dem Stigma vor.
Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet hat einen humorvollen Umgang mit seiner Leseschwäche gefunden. In seinem Lebenslauf auf der Uni-Website listet er seine Dyslexie-Diagnose unter dem Jahr 1955 auf: „Erlaubte mir, in Allem schlecht zu sein – und diejenigen zu verstehen, die Schwierigkeiten hatten“. Unter dem Lebenslauf-Eintrag 1948-55 schreibt er: „erster Teil der experimentellen wissenschaftlichen Karriere in Vallis und Lausanne (Instrumente: Messer, Nadeln, Bänder, Streichhölzer). Über Dubochets Kindheit gibt es, wie man erkennt, Interessanteres zu berichten als seine Leseschwäche.
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