Mail aus Jerusalem, Teil 2: Die Suche
Angst vor der Zukunft und Sprachlosigkeit sind in Jerusalem allgegenwärtig? Was hilft dagegen? Sich einfach mal wegträumen?
![](https://taz.de/picture/85659/14/aliarayyangalerie.jpg)
Die Nachbarn sind noch in ihrem Garten. Es ist ungewöhnlich warm für Anfang Oktober in Ramallah. Sie haben es sich richtig nett gemacht. Von unserem Küchenfenster aus können wir ihren Garten gut übersehen. Buchsbäumchen, Fuchsien, dazwischen kleine Leuchten, die den Garten in Pink und Himmelblau tauchen. Sogar eine Rasenfläche ist ausgelegt worden. Normalerweise wird weniger in den Garten als in die Wohnung investiert.
Leichtes Geplauder klingt herüber und Kinderrufe. Ich sitze an meinem Schreibplatz und versuche meine Gedanken zur kollektiven Erinnerungskultur im Allgemeinen und im Speziellen in Palästina aufs Papier zu bringen. Aber es gelingt mir nicht. Meine Gedanken schweifen ab und verfangen sich irgendwo zwischen Gaza, Jerusalem und Berlin.
In den letzten Tagen habe ich mit meinen Kollegen viele Interviews durchgeführt. Interviews mit palästinensischen Kulturschaffenden auf der Suche nach dem großen „Wo stehen wir gerade und wie geht es weiter – in der Kunst und in der Politik, wie weiter nach all dem Grauen“. Die Sprachlosigkeit ist der größte gemeinsame Nenner. Weitermachen ist auch eine Art Widerstand, sagen die einen. Entschleunigung und Zeit zum Nachdenken in Anspruch zu nehmen auch, behaupten die anderen.
Im Kopf ist mir aber die Aussage eines Urgesteins der Kunstszene geblieben. „Wenn ich in die Zukunft blicke, habe ich Angst. Angst, weil ich nicht mehr verstehe, was hier und in unserer Region allgemein passiert. Meine Koordinaten passen nicht mehr. Die Gewalt, von der wir umgeben sind, überdeckt jeden Gedanken. Ich fühl mich, als ob ich noch mal vorn vorne anfangen muss, lese mich in neuen Stoff ein, um zu verstehen.“
Alia Rayyan lebt und arbeitet in Ramallah und Jerusalem und leitet die palästinensische Kunstgallerie Al Hoash.
„Wir stehen an einer Kreuzung“
Seine Gemälde stehen angelehnt an der Wand, wir sind in seinem Studio und trinken Tee. Auch wenn die Inhalte der Gespräche es nicht vermuten lassen, geht es uns danach doch etwas besser. Vielleicht, weil ein Schritt aus der Sprachlosigkeit gemeistert wurde. „Wir sind in einer interessanten Zeit“, sagt meine zweite Interviewpartnerin fast enthusiastisch, „einer entscheidenden, und wir stehen an einer Kreuzung, auch wenn wir die Wege noch nicht erkennen. Es muss sich etwas ändern.“
Auf dem alltäglichen Weg nach Jerusalem scheinen sich die israelischen Soldaten heute zu langweilen, denn ich werde nach meiner Herkunft ausgefragt, statt einfach nur durch gewinkt zu werden. Erzwungene Plauderstunde am Checkpoint, oft habe ich daran gedacht, diese täglichen Begegnungen aufzuschreiben. Vielleicht geben sie dann einen Sinn. „Bremen?“, dabei macht er ein sehr angestrengtes Gesicht, wie jemand, der versucht sich zu erinnern. „Werder Bremen, football“, helfe ich ihm auf die Sprünge. „I was in Freiburg!“, kommt mit einem Strahlen zurück. Toll für dich, denk ich, und er gibt eine Probe seiner Deutschkenntnisse: „Ich bin glücklich.“
Die jungen Israelis wandern ab
Ein junger israelischer Soldat mit verzücktem Gesicht, wenn er an Freiburg denkt, das passt nun so gar nicht in die offizielle Erinnerungskultur Israels. Ich muss an den Artikel in der Ha’aretz denken, der über die Abwanderung junger Israelis nach Berlin berichtet. 10.000 sind es offiziell. Die israelische Regierung hat eine Dringlichkeitssitzung ausgerufen, dringlicher als die weiterführenden Gespräche mit der Hamas.
Draußen ist es inzwischen still geworden und ich verschiebe meine Vortragsvorbereitung auf morgen. Berlin, Gaza und Jerusalem rufe ich in meinem Kopf zur Ruhe auf und beschließe, mit Martin Suters Buch „Abschalten“ ins Bett zu gehen.
In zwei Wochen eröffnen wir unsere Ausstellung „Recounting of Past, Present and Future“ während der Kunstbiennale Qalandiya International in Ramallah und Jerusalem. Als Antwort auf die Sprachlosigkeit? Vielleicht. Das bleibt Ansichtssache. Ich sehe es eher als Mittel zum Zweck auf der Suche, die alles umfasst. Eine meiner Wahrheiten, die ich vielleicht mit vielen in diesem Land teile. Auch wenn die Realität eine andere ist.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!