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Mahnmal für tote Babies von ZwangsarbeiterinnenDie fremden Kinder

In Otterndorf bei Cuxhaven kamen in den letzten Kriegsjahren 14 Babies von Zwangsarbeiterinnen zu Tode - man hatte sie von ihren Müttern getrennt und in einem unbeheizten Gartenhaus untergebracht. Jahrelang kämpfte eine Initiative, bis ein Mahnmal errichtet wurde.

Durchgesetzt von der CDU-Ratsmehrheit: der Gedenkstein für alle Kinder auf dem neueren Teil des Friedhofs. Bild: Frank Keil

OTTERNDORF taz | Da hinten müsste es gewesen sein! Kurt Schaefer, Pastor im Ruhestand und nach seiner Pensionierung hier nach Otterndorf im Landkreis Cuxhaven gekommen, verlässt den Hauptweg des kirchlichen Friedhofes, stapft beherzt durch den hohen Schnee. "Hier am Rande des Friedhofes", sagt er und zeigt mit einer weiten Armbewegung zum Ende des Geländes hin, "hier lagen die Gräber der Zwangsarbeiterkinder."

Die Friedhofsverwaltung hat die Gräber 1968 aufgelöst, die Fläche entsprechend eingeebnet, als der Friedhof umgestaltet und neue Wege angelegt wurden. Dabei hatte die damalige Bundesregierung zwei Jahre zuvor die Grabanlagen von Zwangsarbeitern und ihren Kindern per Gesetz ausdrücklich unter Bestandschutz genommen.

"Dass die Gräber trotzdem beseitigt wurden, war das nun Absicht oder passierte das aus Unwissen, das ist jetzt die große Frage", sagt Schaefer und er klopft sich den Schnee von den Handschuhen.

14 Kinder polnischer und russischer Zwangsarbeiterinnen kamen zwischen 1944 und 1945 in Otterndorf zu Tode. Gleich nach der Geburt wurden sie ihren Müttern weggenommen, damit diese unverzüglich weiterarbeiten konnten. Die Säuglinge wurden in einem unbeheizten Gartenhaus untergebracht, in dem es nicht einmal fließend Wasser gab.

Sie wurden kaum versorgt, kaum ernährt, nicht medizinisch behandelt - in Sichtweite des Otterndorfer Kreiskrankenhauses, auf dessen Gelände das Haus stand: Alexsander Usik wurde so einen Tag alt, Elfried Wegrizyn schaffte siebeneinhalb Monate.

Pastor Schaefer geht auf den neueren Teil des Friedhofs, die Bahnhofsstraße muss dazu kurz überquert werden, auf dem die Autos durch den Schneematsch schliddern. Der Pastor öffnet die Pforte, geht voran, bleibt vor einem zugeschneiten Findling stehen, der etwas abseits auf einer freien Fläche steht: "Zum Gedenken aller Kinder, die durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren", ist da zu lesen, als Schaefer den Schnee entfernt hat.

Reinhard Krause packt jetzt noch der Ärger, denkt er an den Vormittag, als der Stein eingeweiht wurde, am Volkstrauertag 2003. Lange hatte die Otterndorfer Kommunalpolitik darüber gestritten: SPD und Grüne wollten, dass an die 14 toten Zwangsarbeiterkinder erinnert wird, daran, wie sie gestorben waren.

Die Otterndorfer CDU setzte mit ihrer Mehrheit durch, dass die genaueren Zusammenhänge unerwähnt bleiben: "Alle standen betreten neben dem Stein, der Pastor erzählte irgendwas Allgemeines über Kinder und Kindersoldaten, was ihm gerade so einfiel", erinnert sich Krause. Er ging damals nach Hause, schrieb einen erbosten Leserbrief an die Niederelbe Zeitung, die den sofort druckte. Krause sagt: "Danach war hier Aufstand."

Während die einen Krause heftig beschimpfen, stimmen ihm andere Otterndorfer zu. Krause gründet die Gruppe "Zukunft durch Erinnern", bei der auch Kurt Schaefer mitmacht. Er will nicht lockerlassen, er will nicht hinnehmen, dass über solch offensichtliches Unrecht weiter geschwiegen wird.

Er will nicht mehr hören, dass damals die Leute überall gestorben seien, nichts Ungewöhnliches sei das gewesen: "Hier auf dem Lande hat niemand hungern müssen; den Bauern haben ja die Zwangsarbeiter die Felder bestellt", sagt Krause.

Auf einem kleinen Rasenstück nahe des Gartenhauses, in dem die Kinder starben, wollen Krause, Schaefer und ihre Mitstreiter ein Mahnmal aufstellen. Eine kleine, verwaltungsrechtliche Besonderheit hilft ihnen dabei: Die wenigen Quadratmeter Rasen gehören nicht der Stadt Otterndorf, sondern dem Land Niedersachsen. Und das zeigt sich bereit, die Initiative zu unterstützen.

Die knüpft ihrerseits Kontakt zu der Berliner Künstlerin Rachel Kohn, die eine Skulptur entwirft: eine dunkle, unförmige Wolke, die über einem stilisierten, weißen Kinderbett schwebt.

Schüler einer benachbarten Schule recherchieren im Otterndorfer Kreisarchiv zu den Hintergründen nicht allein in ihrer Stadt und dokumentieren ihre Ergebnisse auf einer Tafel: "Nicht nur nationalsozialistische Stellen waren an der Organisation der Säuglingslager beteiligt, sondern auch Behörden, Krankenkassen, Ärzte, Betriebe und Arbeitsämter", ist da unter anderem zu lesen. Im November 2008 wird das Mahnmal eingeweiht.

Würde es einer konservativen Kleinstadt wie Otterndorf schwerfallen, einen kommunistischen Widerstandskämpfer zu ehren, wäre das vielleicht verständlich. Aber hier geht es um Kinder, von denen kaum eines älter als ein halbes Jahr wurde. Schaefer sagt dazu knapp: "Es waren keine deutschen Kinder; es waren polnische und es waren russische Kinder."

Bis heute findet sich auf dem Otterndorfer Friedhof ein massiger Stein, der an mehrere Otterndorfer Jungen erinnert, darunter zwei Brüder: Die Gruppe findet vor Kriegsende beim Herumstromern eine Mine, die die Soldaten achtlos hatten liegenlassen.

Die Jungen tragen die Mine davon, wollen mal schauen, was passiert, wenn man sie ins Wasser wirft. Und dann stolpert einer von ihnen. "Die Stadt übernimmt bis heute die Pflege für dieses Grab und das ist ja auch richtig so", sagt Schaefer: "Aber für fremde Kinder macht man das eben nicht."

Es gab nicht nur in Otterndorf eine so genannte "Ausländerkinderpflegestätte". Es gab eine solche auch in dem Örtchen Balje, ein paar Kilometer weiter westlich, nahe der Mündung der Oste, wo 13 Säuglinge und Kleinkinder ums Leben kamen. Es gab eine bei Drochtersen, wo die Fähre über die Elbe nach Glückstadt geht, mit 26 Kindern, die nicht leben durften.

Es gab eine bei Jork im Alten Land und eine in Fredenbeck bei Stade, wo das Gemeinderatsmitglied der Grünen Wolfgang Weh sich über Jahre für eine Gedenktafel engagierte und wo nun auf dem örtlichen Friedhof ein Findling allein mit den Vornamen der 17 Opfer zu finden ist - ohne weitere Erklärung, um wen es sich handelt und wie und warum diese hier in einer Ziegelei zu Tode kamen. Heime im Dorf Bülkow und im Waldgebiet der Wingst wurden nicht mehr rechtzeitig fertig gestellt.

Ist eine der Mütter nach 1945 noch mal nach Otterndorf zurückgekehrt, um nach dem Grab ihres Kindes zu schauen? Die beiden Männer schütteln den Kopf: Nicht, dass sie wüssten. Und es sei auch nicht wahrscheinlich: "Die Zwangsarbeiter wurden nach der Kapitulation sofort in ihre Heimatländer geschickt, dort galten sie meist als Helfer der Deutschen, sie werden also in ihrer Familie kaum etwas erzählt und diese Zeit vermutlich schnell verdrängt haben", sagt Schaefer.

Und Krause ergänzt: "Wir wissen auch nicht, ob manchen der Frauen von den Bauern vielleicht Gewalt angetan wurde; wir wissen nicht, wie sie im Einzelnen zu ihren Kindern standen." Nicht mal, ob die Mütter über den Tod ihrer Kinder unterrichtet wurden, ob sie bei der Beerdigung dabei waren, ist bekannt.

Einer aber ist zurückgekehrt: Wladimir Surowow. Er wurde im Sommer 1944 auf einem Hof in Mittelstenahe, südlich von Otterndorf geboren, wurde damals vom hiesigen Ortsgruppenleiter ins Heim nach Otterndorf gebracht. Seine Mutter, eine russische Zwangsarbeiterin, weigert sich daraufhin weiter zu arbeiten.

Der Bauer, bei dem sie arbeiten muss, erreicht, dass ihr das Kind zurückgegeben wird: Er holt es eigenhändig aus Otterndorf zurück - das Kind überlebt. 2007 kommt Surowow nach 62 Jahren unter Vermittlung der Gedenkstätte Neuengamme nach Otterndorf, erzählt von dem wenigen, was er weiß. Und bekennt abends beim Essen: "Ich dachte immer, die Deutschen sind meine Feinde. Aber jetzt weiß ich, dass es auch andere Deutsche gibt."

Kurt Schaefer sagt: "Das erleben zu dürfen, war einer der erhebendsten Momente in meinem Leben."

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1 Kommentar

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  • ND
    Nina dankt

    Liebe taz-Redaktion, lieber Herr Keil,

     

    vielen, vielen Dank dafür, dass ihr immer wieder solche Themen recherchiert und ihnen Platz einräumt!