■ Mahnmal-Debatte: Zum ersten Mal übernimmt ein Gemeinwesen die Verantwortung für von den Vorgängern begangene Greueltaten: Ein aufblitzendes Bild
Das Mahnmal, Eisenman II, wird – mit einem „Ort der Information“ – im nächsten Jahr gebaut. In einer Frage, die weder durch eine EU-Richtlinie geregelt noch für die Autoindustrie von Interesse ist, hat der Deutsche Bundestag eine souveräne Entscheidung getroffen. Die Debatte, die vorgestern im Parlament stattfand, verlief würdig, ohne zur mit rhetorischen Glanzlichtern geschmückten Selbstverständnisdebatte der Nation zu geraten. Verhalten, beinahe beklommen diskutierten die Abgeordneten. Nach mehr als zehn Jahren, nach Anhörungen, Kolloquien und dem unerträglichen Finassieren einzelner Politiker hatte sich die Erschöpfung so ausgebreitet, daß für öffentlich vorgetragene Leidenschaften kein Raum mehr war.
Tatsächlich war ja alles, was pro und kontra gesagt werden konnte, längst gesagt. Die Stimmverteilung zwischen den unterschiedlichen Vorschlägen bewies ein weiteres Mal, daß vor allem – aber keineswegs nur – konservative Parlamentarier weder das Ausmaß dessen, worum es geht, noch die Sprache der zeitgenössischen Kunst verstanden haben; mehr noch, daß das, was sie als christliche Überzeugung vorgeben, kaum mehr als Konventionalismus darstellt.
Zwei Aspekte der Entscheidung stechen hervor. Der immer noch hohe Zuspruch, den Richard Schröders Vorschlag, die hebräische Schriftzeile „Du sollst nicht morden“, zum Kern des Mahnmals zu machen, gewonnen hat, sowie die noch ausschließliche Widmung für die jüdischen Opfer der Massenvernichtung. Beides erweist sich als Ausdruck einer Hilflosigkeit, die objektive Gründe hat. Daß Tod und sogar gewaltsame Tötungen so unterschiedlich sein können, wie die Vielfalt der menschlichen Kultur, will vielen nicht in den Sinn. Daß dem Auslöschen von Menschenleben in den Gaskammern unvorstellbare Formen der Entmenschung vorangegangen sind, will dem auf Routine und Optimismus gestellten Alltagsverstand nicht einleuchten.
Noch einmal: Mord ist nicht gleich Mord. Die dem Ersticken vorangegangene systematische Demütigung und Erniedrigung, die Vernutzung und Entblößung, der noch in der technischen Form die Würde des Menschen widerrufende Tod im Gas werden durch das biblische Mordverbot nicht erreicht. Mehr noch: Seine Einsetzung hätte am Ende dazu geführt, daß mit den Worten der Bibel gelogen worden wäre. Hier wird erneut klar, daß die historisch beglaubigte und stets wiederholte Singularität der Massenvernichtung von vielen nicht verstanden worden ist. Daß das Mahnmal „nur“ den europäischen Juden gewidmet wurde, nimmt die zentrale Bedeutung, die der Judenhaß für das nationalsozialistische Deutschland besaß, ernst und kann somit historische Angemessenheit für sich reklamieren. Daß Judenhaß und Sozialdarwinismus zwei Seiten einer Medaille waren, daß geisteskranke Menschen sowie Sinti und Roma demütigend ermordet wurden, das übergeht die nun beschlossene Widmung. Sie verfehlt damit die ihr abverlangte moralische Angemessenheit.
Die Geschichte des Nationalsozialismus kann noch lange nicht als auch nur halbwegs verstanden gelten. Sie wird auch mit diesem Stelenfeld weder abgegolten noch bewältigt sein. Gleichwohl – bei allen Mängeln – hat der Bundestag gestern etwas historisch Neues und Einzigartiges beschlossen. Dies ist seit Menschengedenken der erste und einzige Fall, daß ein politisches Gemeinwesen die Verantwortung für die von seinen Vorgängern begangenen Greueltaten in öffentlicher Repräsentation und Verantwortung freiwillig übernimmt. Kein Schrein erinnert in Japan an Nanking, keine Gedenkstätte in Frankreich an Algerien, bis heute ist es in den USA undenkbar, den Opfern des Sklavenhandels Respekt zu erweisen.
Angesichts dessen liegt es von rechts bis links allzu nahe, ein weiteres Mal über die Deutschen als ein Volk unverbesserlicher Gutmenschen herzuziehen, die entweder heuchlerischerweise die Geschichte abschließen wollen oder sich naiv ein Büßerhemd überziehen, wo andere fröhlich weitermachen. Lehrt nicht jeder Blick in die Zeitung, daß sich im Kleinen derartiges täglich wiederholt, daß die Parole „Nie wieder Auschwitz“ zwar gut gemeint ist, aber der Wirklichkeit nicht entspricht?
Tatsächlich kommt alles darauf an, keinem magischen Denken zu verfallen. Nach allem was wir wissen, war der Holocaust, nicht einmal an Umfang, wohl aber an Grausamkeit, Böswilligkeit und Demütigung bisher ein Einzelfall, ein nie wieder erreichter Tiefpunkt der Weltgeschichte: trotz Gulag, trotz der Killing-fields in Kambodscha, trotz des Massakers in Ruanda. Das Berliner Mahnmal wird ein Ort des zweckfreien Gedenkens sein – in ihm wird den Toten des Holocaust wenigstens symbolisch Respekt gezeigt, wird ihnen – unzulänglich wie immer – im Kreis menschlicher Gemeinschaft ein Ort zugewiesen. Die Natur des menschlichen Bewußtseins verkennt jedoch, wer übersieht, daß sich die Gedanken von diesen Mordopfern zu den Toten der Gegenwart und der Zukunft bewegen werden. Aus dem zweckfreien Gedenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus fällt ein klares Licht auf jene Regionen der Weltgesellschaft, in denen heute und morgen grausame Massentötungen auf dem Programm der Machthaber stehen.
Als vor einigen Jahren das Holocaust Memorial in Washington eröffnet wurde, band das Weiße Haus seine Unterstützung des Projekts an die Zusicherung, dort auf keinen Fall Genozide in aller Welt zu erörtern. Das aus der Spannung von moralischer Erschütterung, politischer Klugheit und weltanschaulicher Gesinnung resultierende Dilemma hat während des Kosovo-Kriegs alle politischen Lager erschüttert. Ihm wird auch zukünftig nicht zu entgehen sein.
Mit dem Berliner Mahnmal wird der erste Artikel der deutschen Verfassung, wonach die Würde des Menschen unantastbar sei, eine steinerne Form annehmen und die Zukunft dieses Landes auch dann noch berühren, wenn die, die es erdacht, diskutiert und errichtet haben, längst nicht mehr leben. Uns auszumalen, wie künftige Bürger ihr Selbstverständnis an dem unheimlichen Stelenfeld bilden werden, fehlt uns die Phantasie. Walter Benjamin, von den Nazis 1940 auf der Flucht in den Tod getrieben, notierte im gleichen Jahr: „Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten ... Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“
Sollen wir hoffen, daß künftige Generationen keinen Anlaß mehr haben werden, sich und ihre Zeit im Mahnmal zu Berlin wiederzuerkennen? Micha Brumlik
Tatsächlich war alles, was pro und kontra gesagt werden konnte, längst gesagt
Die Geschichte des Nationalsozialismus kann noch lange nicht als verstanden gelten
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