: „Macht und Einfluß der Orthodoxie wachsen“
■ Professor Mosche Zimmermann von der historischen Fakultät der Hebräischen Universität Jerusalem zum Streit unter den jüdischen Glaubensrichtungen
taz: Worum geht es im Streit zwischen den Orthodoxen und den konservativen und Reformjuden konkret?
Mosche Zimmermann: Man kann den Streitpunkt sehr leicht zusammenfassen. Die Orthodoxie hat in Israel eine Monopolstellung inne, und diese will sie verteidigen. Die konservativen und Reformjuden haben institutionell keinen Einfluß, sie sind eine verschwindende Minderheit. Es ist verständlich, daß sie jede Gelegenheit nutzen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Die Orthodoxie wirft den Reformjuden vor, das Judentum aufzuweichen. Trifft das zu?
Das Reformjudentum ist fast zweihundert Jahre alt. Dieser Vorwurf begleitet sie durch die gesamte Geschichte. Es gibt allerdings bis jetzt keinen Beweis dafür, daß dieser Vorwurf zutrifft.
Welche Auswirkungen hat der wachsende Einfluß der Orthodoxie in Israel?
Die Macht und der Einfluß der Orthodoxie wachsen, weil der Alltag der Menschen von der Orthodoxie abhängig ist. 99 Prozent der Israelis gehören dem orthodoxen Judentum an. Und das nicht immer freiwillig. Vermutlich ist nur ein Viertel bis die Hälfte aller Israelis im religiösen Sinne fromm. Aber wenn ich beispielsweise heiraten will, muß ich einen Rabbiner finden, der vom orthodoxen Rabbinat anerkannt ist. Und das heißt, ich bin vom staatlich autorisierten Rabbinat, das orthodox ist, erfaßt.
Insgesamt wächst dazu der Anteil der religiös Frommen. Und das bedeutet dann auch, daß die religiösen Gebote von einer immer größer werdenden Zahl israelischer Juden eingehalten werden, daß am Schabbat weniger Auto gefahren wird, daß weniger Menschen am Strand liegen. Die Tendenz geht auch dahin, die Kinder religiöser zu erziehen.
In der gegenwärtigen Regierungskoalition sitzen ja auch orthodoxe und ultraorthodoxe Parteien. Wird die Politik zum Beispiel gegenüber den Palästinensern dadurch radikaler?
Die Orthodoxen, die in der national-religiösen Partei vertreten sind, repräsentieren die zionistischen Juden, die das Judentum als Nation betrachten. Sie stehen für die Politik eines „Groß-Israel“. Die Ultraorthodoxen haben bislang den Staat Israel als „Ketzerstaat“ abgelehnt. Doch weicht diese Position langsam auf.
Die größte ultraorthodoxe Partei ist gegenwärtig die Schas-Partei. Sie vertritt die sephardischen Juden und ist ein Novum in der politischen Szene. In religiösen Fragen ist sie radikaler als die national-religiöse Partei. Was jedoch die Behandlung der Araber und die besetzten Gebiete angeht, ist Schas weniger radikal.
Allerdings gibt es auch in Schas eine Gruppe, die radikal-nationalistisch ist. Vom Programm her gilt, was ihr geistiger Leiter, Rabbi Ovadia Joseph, sagt: Wir sind für die Siedlungen, denn ganz Israel gehört uns, und wir haben das Recht, überall zu siedeln. Wenn aber Menschenleben gefährdet sind, kann man überlegen, ob man von dem Recht Gebrauch macht oder nicht.
Den Ultraorthodoxen wird ja oft vorgeworfen, sie seien Schmarotzer auf Kosten des Staates. Trifft dies Ihrer Meinung nach zu?
Der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Die Ultraorthodoxen erhalten vielfältige finanzielle Unterstützungen vom Staat. Sie haben in ihrer Mehrheit bisher nicht in der Armee gedient. Doch auch hier vollzieht sich eine Wandlung. Auch Ultraorthodoxe sind heute bereit, im Militär zu dienen. Aber sie verlangen dann, daß das Militär religiöse Schulen, die Yeshivot, einrichtet. Und dann studieren sie dort während ihres Militärdienstes. Oder sie machen nur Reservedienst und besuchen währenddessen die Yeshivot. Dies hat auch Auswirkungen auf den Charakter des Militärs. Es wird nämlich ebenfalls immer religiöser und spiegelt so die allgemeine Tendenz der jüdisch-israelischen Gesellschaft wider. Interview: Georg Baltissen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen