MIT UNTERSUCHUNGSAUSSCHÜSSEN SOLL DIE UNION NICHT SCHERZEN: Ein Instrument der Aufklärung
Eigentlich wäre der 11. 11. für die CDU der geeignete Stichtag gewesen. Kein anderes Datum hätte sich besser für die Bekanntgabe ihres Projekts geeignet, einen Untersuchungsauschuss des Bundestages in Sachen „Rot-grüne Lügen zu den Wirtschaftsdaten während des Wahlkampfs“ zu fordern. Juristisch mag der Untersuchungsauftrag eines solchen Ausschusses unter die verfassungsmäßige Zuständigkeit des Bundestages fallen. Politisch hingegen kann sein Resultat nur ein die ganze fünfte Jahreszeit anhaltendes Gelächter zur Folge haben.
Es hieße den Verstand des Publikums gering zu achten, nähme man an, es würde statistische Erhebungen, Schätzungen und Prognosen im ökonomischen Bereich als schlichte Tatsachenwahrheiten akzeptieren. Wo es aber um nackte Fakten geht, die bekanntlich die Eigenschaft haben, hartnäckig und unbeweglich zu sein, gilt es, auf politische Weise mit ihnen umzugehen. Ihre Bekanntgabe muss sorgfältig dosiert und mit der jeweils genehmen Interpretation versehen werden. Politiker, die ein solches Vorgehen als lügnerisch bezeichnen, verwechseln absichtsvoll die Arbeit des Philosophen mit der eigenen Tätigkeit. Außerdem lassen sie sich auf ein riskantes Unternehmen ein. Sähe sich doch der jeweilige Ankläger in ständiger Gefahr, demnächst selbst auf die Anklagebank gezerrt zu werden. Die Zahl der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, die sich der Aufdeckung von Lügen der jeweils anderen Seite widmen, wäre bald unüberschaubar.
Trotz dieses evidenten Sachverhalts gehört der Vorwurf der Lüge und des Betrugs zum eisernen Bestandteil parlamentarischer Auseinandersetzungen. Aber was heißt „Lüge“ im politischen Betrieb? Von Michel de Montaigne stammt der Satz „Wenn, wie die Wahrheit, die Lüge nur ein Gesicht hätte, wären wir besser dran. Aber die Kehrseite der Wahrheit hat viele Spielarten.“ Zum Beispiel den Selbstbetrug, der den politischen Zielen zuliebe es vorzieht, Fakten unter den Tisch fallen zu lassen oder sie zurechtzukneten. Soll etwa künftig ein Untersuchungsausschuss die Frage klären, ob Edmund Stoiber log, als er im Wahlkampf beim Lobpreis der ökonomischen Errungenschaften des Freistaats Bayern absichtsvoll die Schattenseiten im gelobten Land unterschlug und so die Wähler jenseits der Mainlinie täuschte? Schon jetzt sind parlamentarische Untersuchungsausschüsse mehr politische Schlagstöcke als Instrumente der Aufklärung. Dennoch haben sie in der Vergangenheit mehrfach Nutzen gestiftet. Will man sie, um einer billigen moraischen Entrüstung willen, dem Tod durch Lächerlichkeit preisgeben, so muss man nur dem „Wahrheit und Lüge“-Ausschuss von CDU und CSU zustimmen. CHRISTIAN SEMLER
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