: Lyrik statt Taten
■ betr.: „Bald südfranzösische Ver hältnisse“, Interview mit Eckhardt Barthel (SPD), taz vom 8. 3. 97
Die Berliner SPD opfert ihre Ausländerpolitik auf dem Altar des reinen Machterhalts. Bei den Koalitionsvereinbarungen setzte sie ihre Position zwar weitgehend durch, so daß sich die Koalition auf dem Papier zu begrüßenswerten ausländerplitischen Zielen bekennt. In der Praxis jedoch bestimmt allein die CDU die Ausländerpolitik der Koalition und die SPD trägt alle Beschlüsse brav mit. Da die SPD sich nicht für ihr eigenes politisches Programm einsetzt, fragt sich, wie ernst es ihr überhaupt damit ist. Die Große Koalition blockiert praktisch die Arbeit des Ausschusses für Ausländerfragen: Sie lehnt Anträge von Bündnis 90/ Die Grünen und PDS grundsätzlich ab, und eigene Anträge zu den drängenden Problemen von nichtdeutschen Menschen bringt sie gar nicht erst ein.
Für die SPD ist das anscheinend kein Problem. Sie ist sogar bereit, noch einen Schritt weiterzugehen und den Bereich Ausländerpolitik dauerhaft zu beseitigen. Die geplante Abschaffung des Ausschusses für Ausländerfragen könnte die SPD zwar noch verhindern, im Ältestenrat hat sie aber bereits zugestimmt, unter anderem mit der Begründung, es handele sich um einen überflüssigen „Befindlichkeitsausschuß“. Das sagt einiges über das Demokratieverständnis mancher SozialdemokratInnen.
Ausländerpolitische Ziele, die der Koalitionspolitik entgegenstehen, werden zu „Befindlichkeiten“ degradiert. Und da Bündnis 90/ Die Grünen und PDS nicht freiwillig darauf verzichten, will die SPD ihnen eben das Forum entziehen und den unbequemen Ausschuß gleich ganz abschaffen. Das einzige Gremium auf parlamentarischer Ebene, das sich mit den Problemen der 500.000 nichtdeutschen Menschen in Berlin befaßt, soll aufgelöst werden. Damit ist den sowieso vom Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen jede Möglichkeit der parlamentarischen Einflußnahme genommen. Ausländerpolitische Kompetenzen werden vom demokratisch legitimierten Parlament zur Ausländerbeauftragten verlagert, die Politik über die Köpfe der Betroffenen hinweg gemacht.
Dieser Tendenz zur Entmündigung nichtdeutscher Menschen leistet die SPD Vorschub. Auch Eckhardt Barthel, der ausländerpolitische Sprecher der SPD, will TürkInnen per Visumspflicht dazu zwingen, ihre Kinder auf deutsche statt auf türkische Schulen zu schicken. Die Eltern wollen ihre Kinder von westlichen und liberalen Gedanken fernhalten und ließen sie deshalb in der Türkei ausbilden, meint Barthel. Viel naheliegender allerdings ist, daß die Eltern ihren Kindern einen guten Schulabschluß ermöglichen wollen. Weil sie wissen, daß deutsche Schulen kaum auf die Bedürfnisse nichtdeutscher Kinder eingehen und etwa ein Drittel von ihnen ohne Schulabschluß entlassen, weichen sie in die Türkei aus. Anstatt sich mit dieser deutschen Bildungsmisere auseinanderzusetzen, unterstützt Barthel Zwangsmaßnahmen.
Die SPD verabschiedet sich damit faktisch von emanzipatorischer Integrationspolitik. Ausgerechnet die Partei mit den meisten nichtdeutschen Mitgliedern betreibt ihre Politik auf dem Rücken der ImmigrantInnen, weil sie um jeden Preis mitregieren will. Riza Baran, MdA B'90/Grüne
Eckhardt Barthel, liberales ausländerpolitisches Aushängeschild der Großen Koalition, die insbesondere durch eine menschenverachtende Abschiebepolitik von sich Reden macht, fordert also die Abschaffung des Ausländerausschusses. Er beschwert sich über fehlenden konstruktiven Dialog und erregt sich über Betroffenheitslyrik, als ob er nicht genau wüßte, daß die Große Koalition schon lange kein Interesse mehr an einem Dialog mit der Opposition hat.
Der Verdacht liegt nahe, daß Barthel und seine Kollegen einfach keinen Nerv mehr haben, sich für ihren Anteil an einer diskriminierenden Ausländerpolitik in dieser Stadt rechtfertigen zu müssen. Wo blieb denn der Widerstand der SPD im Abgeordnetenhaus gegen die Anweisung der Sozialsenatorin, die Sozialhilfe für bosnische Kriegsflüchtlinge abzusenken? Wo bleibt denn der Widerstand der regierenden SPD gegen die Abschiebepolitik der Innenverwaltung?
Lyrik in Sachen Ausländerpolitik verbreitet insbesondere Herr Barthel, obwohl seine Aufgabe in einer Regierungskoalition eigentlich Taten wären. Claudio Struck, Bü90/ Grüne in
der BVV Charlottenburg
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