Lutherpreis für Pussy Riot: Im Intimbereich des Glaubens
In Wittenberg zählt das Wort der Theologen – ob von Luther oder Schorlemmer. Wie „unerschrocken“ darf es im Fall von Pussy Riot sein?
WITTENBERG taz | Warum noch Worte zu Pussy Riot? Friedrich Schorlemmer hat alles schon gesagt, doch sagt er es jetzt, ein wenig genervt, noch einmal: Nichts hält er von der Aktion in der Christus-Erlöser-Kathedrale, gewiss haben die jungen Frauen religiöse Gefühle verletzt, die Performance sei kein Gebet gewesen und preiswürdig sei diese Aktion auch nicht, schon gar nicht für eine Ehrung, die sich auf Martin Luther beruft. Aber damit keiner zweifelt: Die Strafe für diesen Auftritt sei völlig unangemessen, und ein Freund Wladimir Putins ist er ganz sicher nicht.
Friedrich Schorlemmer sitzt in seiner Wohnung, hockt mehr auf der Kante als auf dem Stuhl und blickt bei seiner Philippika gelegentlich aus dem Fenster, wo das Laub in der Sonne leuchtet. Mal kneift er die Augen zusammen, mal reißt er sie auf, manche Sätze rattern aus seinem Mund, manche winden sich langsam heraus.
Man kann das als affektiert bezeichnen, hier in Wittenberg immer ein bisschen so zu reden, als wäre jeder Satz in Bronze gegossen wie Luthers 95 Thesen an der Tür der Schlosskirche. Friedrich Schorlemmer liegt dieser Gestus – als Pfarrer, Pazifist und Bürgerrechtler in der DDR und als Friedenspreisträger und „streitbarer Publizist“ im wiedervereinten Deutschland.
Der Preis „Das unerschrockene Wort“ wird seit 1996 vom „Bund der Lutherstädte“ vergeben, in dem 16 Städte vertreten sind: Wittenberg, Eisleben, Eisenach, Erfurt, Halle, Magdeburg, Zeitz, Coburg, Nordhausen, Heidelberg, Worms, Marburg, Augsburg, Schmalkalden, Speyer, Torgau. Er ist mit 10.000 Euro dotiert.
Die Ehre der Nominierung haben 2013 bisher neben Pussy Riot die Pastorin Waltraut Zachhuber (Magdeburg), der Umweltaktivist und Stasiaufklärer Michael Beleites (Halle) und die Initiative „Keine Bedienung für Nazis“ von Regensburger Gastwirten (Evang.-Luth. Kirche in Bayern).
Die Verurteilten Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Alechina von Pussy Riot sind am vergangenen Wochenende in Straflager expediert worden.
Die Entscheidung über die Preisvergabe fällt am 10. November in Eisleben, wo er am 13. April 2013 in der Taufkirche Martin Luthers überreicht wird. Am heutigen Mittwoch berät der Stadtrat von Wittenberg über die Rücknahme der Nominierung von Pussy Riot. Das Rathaus beteuert, der Oberbürgermeister bleibe standhaft. (thg)
Jetzt streitet der 68-Jährige mit der Stadtverwaltung von Wittenberg, dem Bürgermeister und dem Hauptausschuss, der am 13. September Pussy Riot für den Preis „Das unerschrockene Wort“, den alle zwei Jahre 16 deutsche Lutherstädte vergeben, nominiert hat.
Ein Schrei, kein Gebet
„Mein Hauptvorwurf an diese Pussys ist, dass sie nicht beten, sondern provozieren.“ Schorlemmer ist aufgestanden, mit verschränkten Armen macht er einen Schritt zum Kachelofen, wo der Doktorhut hängt, dreht sich wieder um, lässt sich fallen.
„’Gott ist Dreck!‘ – ist das wirklich ein religiöser Refrain?“ Schorlemmer schüttelt den Kopf. „Das war kein Gebetsschrei, sondern ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Dabei ist das Gebet der tiefste Ausdruck des Glaubens“, sinniert er. „Es ist etwas anderes, wenn Frauen in eine Kirche eindringen und rumhüpfen.“
Aber gab es nicht auch Punkkonzerte in den Kirchen der DDR? Schorlemmer überlegt. „Wir haben ein anderes Kirchenverständnis. Bei uns kann man auch im Altarraum Grenzwertiges zeigen.“ Aber auch da gebe es Grenzen. „Bitte nicht so, dass man Menschen in ihren religiösen Gefühlen so verletzt.“
Von Gotteslästerung und Blasphemie habe er hingegen nie gesprochen, wie ihm eine Zeitung angedichtet hat. „Das Wort Blasphemie verwende ich in diesem Zusammenhang nicht. Wegen des Blasphemievorwurfs sind schon Menschen verbrannt worden. Das Wort ist dadurch auch verbrannt.“ Schorlemmers Satz hallt wie ein Akkord nach.
Der Glaube ist ein zartes Ding
Und in welcher Kirche fand der Auftritt der Pussys statt! In der Christus-Erlöser-Kathedrale, die Stalin 1931 hat abreißen lassen. „Dass die wiederaufgebaut wurde, ist für die russische Seele von großer Bedeutung.“ Kurzum – der Glaube ist ein zartes Ding. „Es gibt auch einen Intimbereich des Glaubens.“ Er legt dabei seine Hand bedächtig auf die ovale Tischplatte, als ob er diesen Gedanken versiegeln will. „Das Gebet ist die Grundspeise des Glaubens.“
Plötzlich braust es wieder. „Als Fotzenaufstand, hat jemand gesagt, müsste das richtig übersetzt werden.“ Seltene Vokabeln aus dem Munde eines Pastors. Friedrich Schorlemmer hat sie in den letzten Tagen mehrfach gebraucht. Das „unerschrockene Wort“ setzt andere denkwürdige Wörter frei. Und was denken die orthodoxen Christen in Russland jetzt über die Stadt der Reformation? „Die kriegen den Lutherpreis von den Leuten in Wittenberg! Das fällt auf uns zurück. Ich fühle mich verarscht, um in dieser Sprache zu bleiben.“
Im vorigen Jahr hat Schorlemmer die Laudatio auf Dmitrij Muratow gehalten, den Chefredakteur der Nowaja Gaseta aus Moskau, der den Preis „Das unerschrockene Wort“ für seine Redaktion entgegennahm. Fünf Redaktionsmitglieder sind wegen ihrer Recherchen ermordet worden, darunter 2007 auch Anna Politkowskaja.
Schorlemmer hat eine klangvolle Rede gehalten, hat Thomas Mann, Anna Achmatowa und Hilde Domin zitiert. Und natürlich Luther. Wer würde die Preisrede auf Pussy Riot halten? Schorlemmer fragt bloß: „Was soll Muratow denken?“
„Ein verheerendes Signal“
Dmitrij Muratov könnte schon im Bilde sein. Die Rossijskaja Gaseta, das Sprachrohr der russischen Regierung, berichtete von der Nominierung, dass Protestanten dagegen intervenieren, und zitiert den „bekannten deutschen Bürgerrechtler und Protestanten“ Schorlemmer: „Ein verheerendes Signal“.
Horst Dübner wirkt auch nicht gerade glücklich. Am 13. September fand die erste Sitzung des Hauptausschusses nach der Sommerpause statt, erzählt der 65-Jährige, der für die Linkspartei im Ausschuss sitzt. 24 Tagesordnungspunkte hatten sich seit Juni aufgetürmt.
Dübner empfängt im Büro der Linkspartei in der Pfaffengasse, die auf die Schlosskirche mit ihrer Thesentür zuläuft. Der Antrag besteht aus einem Satz: „Der Haupt- und Wirtschaftsausschuss beschließt, die russische Punkrock- Band ’Pussy Riot‘ als Vorschlag der Lutherstadt Wittenberg für den Preisträger 2013 für ’Das unerschrockene Wort’ zu nominieren.“ Unterschrift Naumann, Oberbürgermeister.
Neben Haushaltssatzung, Kindertagesstätten und dem Umzug der Städtischen Sammlungen sollte der Ausschuss zügig über Pussy Riot beraten. Dübner erinnert sich, dass mancher fragte: Haben wir noch Zeit? Nein, die Nominierungsfrist laufe ab. Es gab eine kurze Diskussion. Dübner hat das Ergebnis im Kopf. Fünf dafür, zwei dagegen, zwei Enthaltungen. Erledigt.
Im Stadtrat rumort es
Bei der Frage, ob mit Pussy Riot die Richtigen nominiert wurden, gebe es Für und Wider, sagt Horst Dübner diplomatisch. Die Mehrheit in seiner Fraktion sei der Meinung, dass es bessere Kandidaten gebe. Dübner selbst enthielt sich, den Beschluss trägt er mit.
Andere sind weniger standfest. Im Stadtrat rumort es. Die „Allianz der Bürger“ will in der Stadtratsitzung am heutigen Mittwoch den Beschluss kippen. Die Stadt hat sich schon bei der Kommunalaufsicht erkundigt, ob die Nominierung rückgängig zu machen ist. Die habe abgewinkt. Alles korrekt, der Beschluss sei vollzogen.
Horst Dübner bleibt gelassen, eines ist ihm klar: Es werde zukünftig einen anderen Weg geben, mit mehr Vorschlägen und einer längeren Diskussion. Eine Ausschreibung im Amtsblatt lädt nicht zur Beteiligung ein.
Jetzt treffen auch Dübner die Blitze der Nominierungsgegner. Er überfliegt einen Brief: „Pussy Riot haben noch nichts geleistet … wussten, worauf sie sich einlassen … zwei Jahre – nicht zuviel und nicht zuwenig …“ Solche Schreiben stecken im Postkasten. Der Atheist Horst Dübner, letzter SED-Kreissekretär von Wittenberg, muss über so viel Ingrimm lächeln. Als ob die Seligkeit der Welt an einer Abstimmung im Hauptausschuss des 50.000-Einwohner-Nestes hänge. Wittenberg ist nicht der Nabel der Welt.
Das protestantische Rom
Wittenberg ist immer noch das protestantische Rom und schickt sich 2017 an, 500 Jahre Reformation zu feiern, ein evangelisches Glaubensfest mit Gästen aus allen christlichen Konfessionen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche gilt als äußerst schwieriger Kamerad.
Mit dem Amtsantritt von Margot Käßmann hat sie vor drei Jahren alle Kontakte zur EKD eingefroren. Eine Frau als Gegenüber für den Patriarchen? Niemals. Dieses Problem hatte sich nach der Alkoholfahrt der EKD-Ratsvorsitzenden schnell erledigt. Doch jetzt vermengen sich Pussy Riot und Luther.
EKD-Auslandsbischof Martin Schindehütte hat eine Botschaft an Metropolit Ilarion gesandt, den „Außenminister“ des Moskauer Patriarchats. Schindehütte schreibt, dass der Preis keine kirchliche Ehrung darstelle und dass die Nominierung von einem falschen Verständnis Luthers zeuge. Es liest sich wie eine größtmögliche Distanzierung von Wittenberg und seinem Vorschlag.
Die evangelischen Amtsträger bemühen sich sehr um ihre Brüder aus Moskau, die sich über die Entweihung der Christus-Erlöser-Kathedrale in heiligem Zorn ergehen und ungerührt in deren Katakomben eine Autowaschanlage und eine chemische Reinigung betreiben.
„Man muss sie vor dem Gefängnis retten“
Solche Mysterien waren Luther ein Gräuel. „Es liegt nichts an mir, aber Gottes Wort will ich mit fröhlichem Herzen und frischem Mut verantworten, niemand angesehen, dazu mir Gott einen fröhlichen und unerschrockenen Geist gegeben hat“, steht an einem Balken in der Durchfahrt zum Lutherhaus geschrieben. Friedrich Schorlemmer kann dieses Lutherwort im Halbschlaf hersagen. Es hat sein Motto 2011 auch Chefredakteur Muratow mit auf den Weg gegeben.
Der hat sich Sonntagabend aus Moskau gemeldet. Es war ein furchtbarer Auftritt, schreibt er, und wenn die Frauen nicht im Gefängnis säßen, wäre er nicht auf ihrer Seite. „Aber sie sitzen im Gefängnis!!! Wie könnte ich jetzt nicht empfehlen, die Frauen zu nominieren?“ Einer halben Stunde später schickt er hinterher: „Nicht ein Preis ist vonnöten, sondern etwas Wirkungsvolleres. Man muss sie vor dem Gefängnis retten.“ Es klingt wie ein Aufschrei.
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