Lukas Bärfuss' Roman über einen Stalker: Misstraue deinen Sinnen
„Hagard“ heißt im Französischen so viel wie „verstört um sich blicken“. So heißt auch das neue Werk von Lukas Bärfuss über einen Stalker.
„Ich mache mir beim Schreiben keine Gedanken über die Wirkungen, ich folge einem Impuls. Alles andere wäre lebensverhindernd“, hat Lukas Bärfuss 2015 im Interview mit der taz erklärt. Beim Verfassen seines neuen, für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans „Hagard“ dürfte ein Impuls gewesen sein zu schildern, was Zufälle in einem Menschen anrichten können und wie sie mit den Zeitläuften in Verbindung stehen.
Eine unerwartete Zugbremsung führt dazu, dass Philip, dem Protagonisten von „Hagard“, ein Schuh abhandenkommt. Ein Mann in einem öffentlichen Verkehrsmittel unterwegs mit nur einem Schuh wirkt lächerlich. Er wird automatisch zum Outcast. Bärfuss schildert diesen Umstand mit pietätloser Präzision. Philip habe „keine Zeit für Legenden, er hat nicht einmal Zeit für Erlösung“.
Zeit ist in der durchgetakteten Gegenwart des Romans eine kostbare Ressource. Auf knapp 180 Seiten entwickelt Bärfuss eine Geschichte, die sich an wenigen Märztagen in einer Stadt zugetragen hat, „in der Gleichgültigkeit die vorherrschende Haltung ist“. Arbeit, Verkehr, Alltagsleben, alles an diesem Ort ist der Produktivität unterworfen. Und doch schleichen sich in „Hagard“ Zweifel ein, ob der unendliche Wohlstand und die gesellschaftliche Unbeschwertheit nicht bald Geschichte sind.
Die Stadt, obgleich sie ungenannt bleibt, macht der Leser unschwer als Zürich aus. Bärfuss erwähnt auch einen Malaysia-Air-Unglücksflug und den Konflikt zwischen der Ukraine und Russland um die Krim, datiert seinen Roman also in der jüngeren Vergangenheit. Ansonsten gibt der Schweizer Autor seinen Lesern kaum Gegenwartssplitter und Gewissheiten an die Hand. Sein Erzähler ist nicht gerade verlässlich, er berichtet retrospektiv und steht doch vor einem Rätsel: „Ich weiß alles und begreife nichts“, heißt es gleich zum Auftakt, dann zählt er Personen und Situationen auf, die im Verlauf der Geschichte eine Rolle spielen werden.
Die Frau
Seinem Roman hat Bärfuss ein Fragment aus einem Lehrgedicht von Parmenides vorangestellt, einem Denker, der zu den Pythagoreern gezählt wurde. Denken und Sprache stellte er über das Sein. „Es ist für mich das Gleiche, von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.“ Bärfuss’ Ich-Erzähler führt die moralische Instanz dieses Philosophen in die Gegenwart und offenbart Verzweiflung: „Ich bin ein Spieler knapp vor dem Bankrott.“ Doch bei allem Selbstzweifel ist dieser Erzähler manchmal einen Tick zu kokett gezeichnet. Der Sog von „Hagard“ entwickelt sich gerade dann, wenn der namenlose Ich-Erzähler aus der Handlung ausgeblendet wird und das Geschehen stattdessen aus der Perspektive des Protagonisten geschildert wird.
Lukas Bärfuss: „Hagard“. Wallstein Verlag, Göttingen 2017, 174 Seiten, 19,90 Euro
Der handysüchtige Philip arbeitet als „Immobilienentwickler“: Eigentlich soll er in einem Café einen Kunden zum Verhandlungsgespräch treffen. Da sich jener verspätet, nimmt das Unheil seinen Lauf. Des Wartens überdrüssig, verlässt Philip das Café, sieht eine junge Frau und beginnt sie zu verfolgen. Über Rolltreppen, durch Bahnhöfe, vorbei an gesichtslosen Bauten aus Waschbeton, hinaus in die Vorstadt. Vielleicht folgt er auch nur den „pflaumenblauen Ballerinas“ an den Füßen der Frau. Solche und andere Konsumartikel, ihre Darstellung auf Bildschirmen und Werbeplakaten muten in „Hagard“ stets unheimlich an. Im Französischen bedeutet „hagard“ „verstört um sich blicken“.
Die Frau bemerkt ihren Verfolger bald. Und entkommt ihm ein ums andere Mal. Der Verfolger dagegen wird selbst zum Verfolgten. Kein Geld, keine Kommunikation, kein Plan; alles, was ihn zuvor privilegiert hat, belastet ihn plötzlich. Wenn Philip der Frau nicht hinterherstalkt, blickt er auf die Batterieanzeige seines Handys. Allmählich schwindet dessen Leistung, und Philips Verbindung zur Welt wird schwächer, bis sie vollständig erlischt.
„Mit der Nichtigkeit der Details“ will sich der Ich-Erzähler nicht abfinden. Sie sind ihm peinlich, beschäftigen ihn aber mehr als die „abseitigen, schmutzigen und kranken Momente“ der Geschichte. An einer Stelle rätselt Philip, warum die junge Frau in ein Pelzgeschäft geht und was sie dort macht. Der Leser denkt an Leopold von Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ und dessen krankhaften Realismus. Bärfuss’ Ich-Erzähler denkt an Tierschutzorganisationen, aber auch an Internetpornografie mit akrobatischen russischen Frauen. Sigmund Freud würde sich seinen Teil dazu denken.
Lukas Bärfuss lehrt mit „Hagard“, den eigenen Sinneswahrnehmungen zu misstrauen. Die Lektüre seines neuen Romans löst viele, auch ungute Gedanken aus, und das ist gut so.
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