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Luftig-intensive Liebhaber

■ Frutteros und Lucentinis „Liebhaber ohne festen Wohnsitz“

Im Anflug auf Venedig stellt der Erzähler einen Reiseleiter vor, dessen Namen, Mr.Silvera, man dadurch erfährt, daß seine Touristen ihn wie quängelige Kinder unablässig rufen. Im Hotel angekommen, weiß man, was der Erzähler in Venedig sucht: alte, wertvolle Bilder, die er für sein Auktionshaus billig erwerben soll. Da wird die erste Täuschung aufgelöst. Der Erzähler ist eine Frau, eine Principessa aus Rom, sehr chic und sehr versiert im Kunstgeschäft. Mit geübtem Blick hat sie in Mr.Silvera schon im Flugzeug einen Mann erkannt, der den Reiseleiter nur zu spielen scheint. Alles weitere wird sich im wesentlichen zwischen der Dame aus Rom und Mr.Silvera abspielen, der sich in den Geheimnissen Venedigs ebenso auskennt wie er selbst voller Rätsel steckt.

Fruttero und Lucentini sind in Italien dafür bekannt, daß sie schwere Fälle in leichter Manier lösen, daß sie als literarische Trickkünstler vorzugsweise Erotik, Verbrechen und trivialste Alltagsgeschichten so durcheinanderwirbeln, daß zwischen Krimi, Liebesgeschichte und Zeitkritik eine neue literarische Gattung zustandekommt.

Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz heißt das hier zur Rede stehende neueste Exemplar dieser Gattung. Die Kriminalgeschichte entzündet sich an einer alten Gemäldesammlung, die von einer venezianischen Aristokratin zum Verkauf angeboten wird. Unter den alten Schinken soll sich ein besonders wertvolles Bild befinden, das aber niemand entdeckt, bis das Rätsel von Mr.Silvera souverän gelöst wird.

Zeitkritik begegnet uns hier vor allem in der Form der Tourismus-Satire, die in Venedig gut plaziert ist. Die internationale Reisegesellschaft, die Mr.Silvera in rasantem Tempo an Venedigs Sehenswürdigkeiten vorbeigeführt hat, wird von den Autoren nicht einfach mit kulturkritischer Attitüde ihrer Wahrnehmungsdummheit überführt, sie wird genüßlich auseinandergenommen und löst sich in japanische, deutsche oder kanadische Individuen auf, die auf bejammernswert komische Weise an den Unbillen der Sightseeing-Tour scheitern. Dann die Blicke auf Venedigs Kultur- und Bildungsschickeria: Ihr anzugehören verlangt ein gewisses Maß an unverwechselbarer Arroganz; Futtero und Lucentini müssen da über intimste Kenntnisse verfügen. Oder der alte Hoteldiener, der jeden Gast sofort nach Nation, Einkommen und Trinkgeldmenge taxiert und den jungen Diener beschimpft, der nichts vom Fach versteht. Das sind Lektürefreuden der besonderen Art. Wer Venedig nicht kennt, lernt es in diesem Roman kennen, wer es zu kennen glaubt, wird eines Besseren belehrt.

Mr.Silvera, der seine Reisegruppe im Stich gelassen hat, zeigt der römischen Principessa, Kunstkennerin und Erzählerin des Romans, ein neues Venedig. Das Ghetto, versteckteste Gäßchen, Fresken in Kellern, unbekannte Trattorien: Dies alles wird in markante Kulissen einer Liebesgeschichte verwandelt, wie sie in der neueren Literatur ihresgleichen sucht. Manchmal rutscht die Schilderung der Liebe ganz nah an der Trivialliteratur vorbei, so verschafft sie sich jene Prise Kitsch und Gift, ohne die erotische Literatur zu echt oder zu langweilig wirkt.

Dieser Mr.Silvera, der nie sagt, woher er kommt, was er tut, wenn er sich gerade nicht in Venedig verliebt und Gemäldesammlungs-Kriminalfälle löst, dieser auf unprätentiöse Weise durchblickende Besserwisser und luftig -intensive Liebhaber ist das Gegenteil vom nörgelnden Touristen; er entpuppt sich als prinzipieller Flüchtling, als Nachkomme des Ewigen Juden. Und so verschwindet er aus Venedig und läßt die Römerin mit einer wunderbaren Erinnerung allein. Der Verdacht, daß die Autoren mit dieser Figur, die nicht seßhaft ist und nichts besitzen kann, ein bißchen ideologisches Gepäck eingeschmuggelt haben, löst sich in der Erzählkunst von Fruttero und Lucentini vollkommen auf.

Heiner Boehncke

Carlo Fruttero und Franco Lucentini: „Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz“. Roman. Aus dem Italienischen von Dora Winkler. Piper Verlag, München 1988, 319 Seiten, 36 Mark

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