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Loyale Opposition

■ Nicht die Kritik Sacharows hat sich verändert, sondern die Regierungspolitik

Am 16. Dezember letzten Jahres wurde die Verbannung Andrej Sacharows nach fast sieben Jahren aufgehoben. Drei Tage später kam ein alter Freund und Mitarbeiter aus dem Physikalischen Institut der Akademie der Wissenschaften nach Gorkij zu Besuch: der neue Akademie–Präsident Gurij Martschuk. Er teilte dem Verbannten mit, daß man ihm bereits sein altes Arbeitszimmer in der Akademie erneut reserviert habe. Am 23. Dezember kehrte dann das Ehepaar Sacharow–Bonner in seine Moskauer Wohnung zurück, die seither, wie in alten Tagen, ein Treffpunkt für Dissidenten und westliche Korrespondenten ist. Auch Sacharows Kritik am bisherigen Sowjetsytem, an der Einschränkung der Meinungsfreiheit, an ungerechten und drakonischen Haftstrafen, am Mangel an Demokratie, bleibt. Geblieben ist auch die Hoffnung auf westliche Unterstützung. Der Tenor der Kritik aber hat sich geändert: Gorbatschows Kurs ist für Sacharow nicht konsequent genug. Aber die Richtung stimme. An der Forderung nach einem Rückzug aus Afghanistan fand der Leiter der sowjetischen KSZE–Delegation vor einer Woche nichts Skandalöses mehr; das wolle doch auch die Regierung. Daß SDI nicht effizient sein wird, hat Sacharow im Spiegel–Interview (5.1.87) mit den gleichen Begründungen behauptet wie die offizielle Seite. Vor allem aber ist deutlich geworden: Sacharow ist kein Feind der Entspannung und kein Anhänger der Konzeption, daß die Sowjetunion durch ein Wettrüsten in den Bankrott getrieben werden müsse. Damit gerät er in einen Gegensatz zur Regierung Reagan, die eben ihren Moskauer Botschafter Hartmann abberufen hat, weil er sich allzu ausdrücklich für Abrüstungsverhandlungen und gegen diplomatische Nadelstiche ausgesprochen hatte. Die Taktik Gorbatschows, die kritische Intelligenz seines Landes durch einen Stellungswechsel in die offizielle Politik zu integrieren, scheint also zumindest teilweise zu gelingen. Erhard Stölting

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