London nach Olympia: Ein britisches Sommermärchen
Vom Medaillenspiegel bis zum Nahverkehr: Bei Olympia lief in London alles besser als befürchtet. Der konservative Bürgermeister Johnson gilt nun als Mann der Zukunft.
LONDON taz | Am meisten staunen wohl die Briten selbst. Die Gastgeber feiern euphorisch den dritten Platz ihres „Team GB“. Schotten schwenken Union-Jack-Fahnen. Die Medien erteilen Bestnoten.
Was wurde im Vorfeld nicht alles an möglichen Desastern vorweggenommen: Verkehrschaos auf den Straßen, Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs. Nichts davon traf ein, sogar das Wetter spielte mit. Dass kurz vor Olympia-Beginn Tausende Soldaten einspringen müssen, um den Personalmangel bei der privaten Sicherheitsfirma G4S für Eingangskontrollen und Ordnerdienste zu kompensieren, erwies sich als gelungener Coup: Noch mehr wurden die Spiele zur nationalen Angelegenheit, und die Briten trauen ihrer Armee sowieso mehr zu als einem Haufen Wachschützern.
Soldaten füllten schließlich auch die leeren Sitzplätze in den Wettkampfarenen, die eigentlich von Angehörigen der IOC-Mitglieder oder Sponsoren hätten eingenommen werden sollen. Eine schnelle Befriedungsstrategie angesichts der vielen Sportfans, die zuvor vergeblich übers Internet Tickets gesucht hatten. Dafür strömten Hunderttausende zu den eintrittsfreien Wettbewerben wie dem Straßenradrennen, dem Triathlon und zuletzt dem Marathonlauf.
Vor der Kulisse klassischer Londoner Sehenswürdigkeiten wurden die Briten dem Ruf gerecht, die enthusiastischsten Sportzuschauer der Welt zu sein, die auch Läufer, Radler und Schwimmer aus Äthiopien, von den Bahamas oder Indonesien frenetisch anfeuerten.
Keine Loser-Nation mehr
Doch ist es vor allem das zahlreiche Gold für die britischen Olympioniken selbst, die in den Augen der Meinungsmacher das Land von seinem Selbstbild der Loser-Nation befreit hat. Man kann es völlig gegensätzlich interpretieren: Der Spitzenplatz im Medaillenranking sei dank zahlreicher Siege von AthletInnen mit Migrationshintergrund Ausweis für das Funktionieren des multikulturellen Zusammenlebens auf der Insel, behauptet der linksliberale Guardian. Der konservative Kommentator Charles Moore im konservativen Daily Telegraph hingegen gibt sich imperial selbstzufrieden, denn nun sei bewiesen, was für ein weltweites Vorbild das Vereinigte Königreich sei.
In Presse und Fernsehen wird nun fast flehentlich an die Briten appelliert, ihre heitere Olympia-Laune doch bitte über den Augenblick zu retten. Als ob damit alle Probleme, die nach zwei Wochen Goldrausch demnächst wieder stärker zu Tage treten werden, weggewischt werden könnten. Zum Beispiel das der lahmenden Wirtschaft oder die zunehmend schlechte Stimmung in der konservativ-liberalen Koalitionsregierung.
Während der konservative Premierminister David Cameron das olympische Hoch kaum genießen konnte, profitiert sein Parteikollege, Londons Bürgermeister Boris Johnson, umso mehr. Der bullige 48-Jährige mit dem ungekämmten Blondschopf schien während der 17 Olympiatage stets auf Sendung zu sein, keine Kamera und kein Mikro auszulassen.
Johnson, der 1964 in New York geboren wurde und ebenso wie David Cameron an der privaten Eliteschule Eton und dann an der Eliteuniversität Oxford ausgebildet wurde, hat es anders als Cameron verstanden, aus seinem Oberklasse-Habitus den Hang zu kontroversen Auftritten und lockeren Sprüchen zu bewahren. Dieser Tage gab es davon reichlich Kostproben. Für Johnson glänzten die Beach-Volleyballerinnen „wie nasse Otter“.
Im Schwimmstadion zeigte er sich mit Medienmogul Rupert Murdoch, mit dem ansonsten kein britischer Politiker mehr etwas zu tun haben möchte. Minutenlang und fähnchenschwingend hing er beim Public Viewing im Victoria Park an einer Seilbahn hoch über den Besuchern fest. Anderntags forderte er zwei Stunden Sport täglich für alle Schüler, nachdem Cameron zwei Stunden wöchentlich als bloßes Pflichterfüllungsprogramm abgelehnt hatte.
Johnson, 2008 als Bürgermeister gewählt und dieses Jahr wiedergewählt, liegt oft quer zur Linie der eigenen Partei. Er gibt sich als Champion der ungeliebten City, was Cameron zu vermeiden versucht; andererseits fördert er das Radfahren und gibt gern den Umweltschützer auf dem Drahtesel. Seine Bemerkungen sind nicht selten anzüglich, aber er kommt damit immer irgendwie durch.
Image des Kumpeltyps
Ja, es gehört geradezu zu seinem Image des Kumpeltyps, mit dem selbst seine politischen Gegner ein Bier im Pub trinken können. Im Gegensatz zu anderen Politiker schafft er es, dass man nicht über, sondern mit ihm lacht. Sein unkaputtbarer Optimismus hat genau zur Olympia-Euphorie gepasst und lässt jetzt Parteigänger laut werden, die ihn gerne als Nachfolger des derzeit eher glücklosen Cameron sehen würden.
Den Gerüchten über seine politischen Ambitionen ließ Johnson einige Tage freien Lauf, bevor er in seiner ihm typischen selbstironischen Art alles abstritt: „Wer wählt schon einen Trottel am Drahtseil.“ Nein, er werde die volle Amtszeit im Rathaus bleiben, also bis 2016. Damit hat Johnson sich natürlich alle Optionen für die Zukunft offen gehalten.
Dass Boris Johnson Olympia 2012 auch zu seinem Sommermärchen machen konnte, liegt wohl daran, dass das Spektakel so funktioniert wie seine politische Performance: ein großer Spaß, der jedem etwas bietet, ob patriotische Selbstvergewisserung oder Völkerverständigung. Als Wohlfühl-Event, dem man sich für den Moment schwer entziehen kann, dessen Nachhaltigkeit aber zweifelhaft bleibt.
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