■ Vorschlag: „Little Sister“: der erste große Spielfilm von Robert Jan Westdijk
Irgend etwas stimmt nicht mit Daantje. Kein bißchen scheint sie sich darüber zu freuen, daß ihr verschollen geglaubter Bruder Martijn plötzlich vor ihrer Amsterdamer Tür steht. Allerdings ist er auch nicht mit Blumen, sondern mit einer Videokamera gekommen, aus deren subjektiver Perspektive man Daantje sieht. In den nächsten 90 Minuten wird sich an diesem Blickwinkel auch selten etwas ändern. Aber darum ist es auch um so merkwürdiger, daß Daantje ihn filmen läßt. Ob sie die wilde Party zu ihrem 20. Geburtstag feiert, mit ihrer Freundin Ingeborg auf dem Flohmarkt bummelt oder mit Ramon, ihrer großen Liebe, Kamasutra praktiziert – immer fokussiert Martijn sie mit der Videokamera, und Daantje duldet es immer. Fast immer. Denn irgend etwas ist da.
Dem jungen niederländischen Regisseur Robert Jan Westdijk ist es bei seinem ersten großen und mit Privatgeldern finanzierten Spielfilm „Little Sister“ gelungen, den Bann, unter dem Daantje steht, auf die Zuschauer zu übertragen. Fast der ganze Film wurde mit einer Handkamera gedreht, so daß der Zuschauer gezwungen ist, die penetrant voyeuristische Perspektive Martijns einzunehmen. „Little Sister“ ist jedoch mehr als das Psychogramm einer Beziehung. Mit kurzen Perspektivenwechseln – wenn Daantje und ihre Freunde die Kamera übernehmen oder Super-8-Aufnahmen der gemeinsamen Kindheit dazwischengeschnitten werden – gelingt es Westdijk, die Geschichte zu erzählen, wie ein Bruder seine kleine Schwester zwingt, ein furchtbares Kindheitserlebnis aufzuarbeiten.
Westdijks Spiel mit dem Ungewissen ist raffiniert, und am Rande entsteht dabei auch noch ein Porträt niederländischer Jugendlicher Mitte der Neunziger: So muß Daantje für ihre Designklasse eine Hose entwerfen, die alles außer zwei Beinen haben darf. Kim van Kooten spielt Daantje, und wenn sie für sich und Martijn wie früher aus Cola, Kondensmilch und Würfelzucker einen Zaubertrunk mixt, dann fällt ihr diese Annäherung an die Kindheit trotz Lachens so schwer, daß man das Ekelzeug sogar für sie trinken würde, wenn ihr damit nur geholfen wäre. Aber das ist gar nicht nötig, zum Glück kommt alles anders, als man befürchtet hatte. Ania Maruschat
Central, Filmbühne am Steinplatz und fsk, Termine siehe cinemataz
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