Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux: „Ich bin eine Frau, die schreibt“
Die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux über Vergangenheit, sozialen Aufstieg und das Schreiben als Prozess des Nachdenkens.
taz: Madame Ernaux, Ruhm wurde Ihnen als Schriftstellerin erst spät zuteil. Was ließ Sie aber überhaupt zu schreiben beginnen?
Annie Ernaux: Die Lust und das Interesse am Schreiben entwickelte ich früh, schon mit 20 Jahren. Ein paar Jahre später schrieb ich auch schon ein erstes Buch, das ich auch vollendete, allerdings nie veröffentlichte.
Dass ich dann zehn Jahre später doch wieder weiterschrieb und tatsächlich auch meinen ersten Roman veröffentlichte, hatte viel damit zu tun, dass ich mir immer mehr Gedanken über mein eigenes Leben machte. Ich hatte die Gesellschaftsklasse gewechselt, plötzlich war ich nicht mehr das Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen, sondern eine gut gekleidete Lehrerin mit Mann und adrettem Zuhause. Ich wollte reflektieren, wie es genau dazu gekommen war und was das eigentlich bedeutete. Und das tat ich, indem ich es aufschrieb.
In Ihrem Werk setzen Sie sich immer wieder mit Ihrer Autobiografie auseinander, mit Erinnerungen und Tagebüchern. Macht Sie die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit manchmal wehmütig?
Kindheit und Aufstieg
Annie Duchesne wurde 1940 geboren und wuchs als Arbeitertochter in der Normandie auf. Sie studierte in Rouen und Bordeaux, wurde Lehrerin und schaffte den sozialen Aufstieg.
Schreiben
1974 veröffentlichte sie ihren ersten autobiografischen Roman, „Les Armoires vides“ („Die leeren Schränke). 1984 erhielt sie ihren ersten Preis. Sie schreibt vornehmlich autobiografisch, im Lichte gesamtgesellschaftlicher Ereignisse.
Bücher und Filme
Bisher auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen: „Das andere Mädchen“, „Das Ereignis“, „Die Jahre“, „Erinnerung eines Mädchens“, „Der Platz“, „Die Scham“ und „Eine Frau“. Im Mai stellte Ernaux zusammen mit ihrem Sohn bei den Filmfestspielen in Cannes „Les Années Super 8“ vor, einen autobiografischen Dokumentarfilm, zu sehen bis 31. Oktober in der Arte-Mediathek
Nein, ich werde nicht rührselig oder emotional, wenn ich an Ereignisse denke, die so weit zurückliegen. Auch nicht, als ich zuletzt all die alten Super-8-Aufnahmen meiner Familie wieder gesehen habe, aus denen mein Sohn David und ich den Film „Les années Super 8“ gemacht haben. Die Distanz ist einfach zu groß, schließlich ist seither unglaublich viel Zeit vergangen.
Aber gerade diese Distanz erlaubt es mir natürlich, meine Erinnerungen in ein Narrativ zu verwandeln und zu verdichten. Im Zentrum steht dann eine Frau, die ich einmal war, aber heute nicht mehr bin, und das in einem Kontext, der ein anderer ist als mein gegenwärtiger. Das ist wichtig, dieser Abstand muss da sein. Über Dinge, die erst zehn Jahre zurückliegen, könnte ich vermutlich nicht so ohne Weiteres schreiben.
Besagter Film besteht lediglich aus diesen alten Aufnahmen, dazu haben Sie einen Text geschrieben. Haben Sie das als eine Art Fortsetzung Ihrer literarischen Arbeit empfunden?
Irgendwie war es beides, einerseits eine Erweiterung dessen, was ich ohnehin immer getan habe, aber andererseits auch etwas vollkommen anderes. Natürlich habe ich auch für den Film wieder mit meinen Lebenserinnerungen gearbeitet, genau wie für meine Bücher.
Gleichzeitig bin ich aber natürlich in der Literatur viel freier, während ich beim Schreiben des Textes für den Film gebunden war an die Bilder. Es war ungewohnt, eine solche Vorgabe zu haben, die gewisse Einschränkungen mit sich brachte. Auch wenn ich natürlich immer wieder versucht habe, die Aufnahmen der Super-8-Filme als Ausgangspunkt zu nehmen, um Gedanken auch darüber hinaus zu entwickeln und größere Kontexte herzustellen.
Aber der Text entstand wie Ihre anderen Werke auch?
Das schon. Ich war da ganz frei und unabhängig, es gab keine Vorgaben seitens meines Sohnes, welche Themen ich mir vornehmen solle. Ich wusste natürlich, was wir damals alles gefilmt haben, außerdem war klar, wie lang der Film werden solle.
Alles andere war mir überlassen, und nur so kann ich arbeiten. Unsere Reisen, etwa nach Albanien oder Chile, unser Alltag, aber auch das Dasein als Frau im Frankreich der siebziger Jahre, all das floss mit ein in den Text zum Film, der mich immer wieder auch an mein Buch „Die Jahre“ denken ließ, in dem diese Zeit auch schon viel Raum eingenommen hatte.
Hat Sie das Medium Film darüber hinaus je interessiert?
Als Zuschauerin natürlich, und ich würde sagen, dass sicherlich das Kino der Nouvelle Vague einen Einfluss darauf hatte, dass und wie ich zu schreiben begonnen habe. Mehr noch sogar als der Nouveau Roman, also jene Bewegung, die ab der Mitte der 1950er Jahre in der französischen Literatur vieles veränderte. Aber als Künstlerin?
Nein. Ich bin eine Frau, die schreibt. Das genügt mir. Ich arbeite beim Schreiben mit meinen eigenen, inneren Bildern, mit den Bildern meiner Erinnerung. Fürs Kino zu schreiben, also der Prozess der Drehbucharbeit, hat mich nie interessiert.
Sehnen Sie sich auch manchmal nach der Vergangenheit zurück?
Nicht wirklich, denn ich lebe im Jetzt, und so sehr Gestern und Morgen ein Teil der Gegenwart sind, so wichtig ist der Moment. Aber wenn ich etwa an die siebziger Jahre denke, ist der Unterschied zu heute doch einer wie Tag und Nacht. Heute herrscht eine Hoffnungslosigkeit, die ich mir früher nie hätte ausmalen können. Damals dachten wir, dass uns eigentlich die ganze Welt offensteht und uns keine Grenzen gesetzt sind, dass wir alles verändern können und alles besser wird. Selbst was die Politik angeht.
Die Welt, die Natur, alles war zunächst unsere Spielwiese. Bis dann doch recht früh eigentlich schon klar wurde, dass die Ressourcen eben nicht endlos sind und auch unsere Freiheit eben nicht grenzenlos ist. Deswegen verstehe ich, woher die heutige Hoffnungslosigkeit kommt. Aber ich wünsche mir trotzdem sehr, dass sie nur eine Phase ist, die auch wieder vorübergeht. Was morgen ist, lässt sich unmöglich vorhersagen, also warum sollte man nicht ein bisschen hoffnungsvoll sein.
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