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Literatur aus dem Zonenrandgebiet"Hier trinkt man kain Ladde Makjado"

Kommentar von Alexander Cammann

Aus der Provinz in den Prenzlauer Berg und zurück. In seinem Roman "Nachglühen" erzählt Jan Böttcher von der Rückkehr zweier Mittdreißiger in das Ost-Dorf ihrer Kindheit.

Böttcher hat aufgepasst und beschreibt das "Sperrgebietsgrenzdorfkinderzimmer" exakt. Bild: marquis/photocase

V ielleicht müssen wir am Anfang die allzu oft gehörte Geschichte noch einmal erzählen, jene Saga vom Ost-Berlin der goldenen Neunzigerjahre. Eigentlich war ja Grau die Farbe jener Zeit: Schwelgerisch schimmerten die Häuserfassaden damals noch in dieser geschichtsträchtigen Tönung. Junge Menschen Anfang zwanzig kamen aus der westdeutschen Provinz in die Stadt zum Studium, natürlich an der Humboldt-Universität. Das Fach war egal, sie studierten ohnehin Lebensgefühl. Dunkel waberten in ihnen Erinnerungen an Klassenreisen herum, auf denen manche für einen Tag den Osten besucht hatten. Nun wohnten sie dort, natürlich in Prenzlauer Berg, gerne noch mit Kohleofen für die Abenteuerstimmung und skurrilen, beuteltragenden Ostrentnern (Stasi?) als Nachbarn.

Sie lauschten mit aufgerissenen Augen den exotischen Geschichten der wenigen Ostler, die sie kannten: "Krass! Du, das ist alles für mich irgendwie so schwer vorstellbar, dass das mal so war, ich mein: dass es überhaupt so etwas geben konnte!" Dem Besuch aus Westdeutschland, der regelmäßig zum Staunen anrückte, konnten sie das mit erheblichen Distinktionsgewinnen weitererzählen. Nach der Volksbühne gingen sie in illegale Kellerbars mit 1,60 Meter Deckenhöhe. Irgendwann hatten sie eine Ostfreundin/einen Ostfreund, möglichst ursprünglich und authentisch, also komplett anders, unangepasst, tiefgründiger, am besten mit Dialekt und dennoch/deshalb hemmungslosem Sex. Sie überstanden erste Besuche bei deren/dessen Eltern und ertrugen verständnisvoll deren Tiraden über die ungerechte neue Zeit. Irgendwann schrieb dann Judith Hermann "Sommerhaus, später": Ja, da hatte jemand ihren Ton getroffen.

Nun war eigentlich alles schon wieder zu Ende, weil es jetzt richtig losging: Noch mehr von ihnen kamen um die Jahrtausendwende in die Stadt. Vorbei war es mit dem Avantgardestatus, Florian Illies lebte mittlerweile auch hier. Schnell kauften ihre Studienratseltern die ersten sanierten Wohnungen im Osten - war ja noch so billig! -, in denen sie dann nicht mehr mit Außenklo wohnten. Die Ostfreundin/den Ostfreund gab es bald nicht mehr, dafür den/die Kulturwissenschaftler/in, aus Mainz oder München dem Lockruf der gelobten Stadt gefolgt. Da hatten sie aber schon längst unmerklich irgendetwas angefangen.

Wie zum Beispiel Jan Böttcher, geboren 1973 in Lüneburg. Seit Mitte der Neunzigerjahre studierte er deutsche Literatur an der Humboldt-Universität. Und er fing bald die Band Herr Nilsson an, textete und sang für sie. Das war etwas Neues und Nettes: ironisch, aber nicht ausschließlich; Gefühl, nur nicht zu viel; schon extrem komisch, aber eben nicht nur; dabei stets intellektuell und charmant. "Sex im Forumhotel" hieß der legendäre Song auf dem Debütalbum "Liebesleid und Fischigkeit" (1998); gemeint war das weithin sichtbare Hotelhochhaus am Alexanderplatz, ein architektonisches Überbleibsel der DDR-Moderne. Herr Nilsson präsentierte die Szenen, die Sprache und den Klang jenes Ost-Berliner Selbstfindungslabors, in dem sie alle lebten; der Kultstatus ließ nicht lange auf sich warten.

Zehn Jahre später hat sich das alles in Normalität verwandelt. Das Forumhotel heißt lange schon "Park Inn". Dennoch trifft einiges, nicht alles aus jener ironischen Anfänge-Mythologie über die jungen westlichen Eroberer des Neunzigerjahre-Ost-Berlins auch auf Jan Böttcher zu. Die große Frage an diese goldenen Neunzigerjahre war ja immer, was daraus werden würde. Dass er 2007 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt antrat und dort den Ernst-Willner-Preis gewann, hätte Jan Böttcher damals wohl allenfalls scherzhaft prophezeit. Tatsächlich scheint da etwas im Werden zu sein. Ernst ist es ihm jedenfalls mittlerweile mit dem Geschichtenerzählen. Davon zeugten sein Erstling "Lina oder: Das kalte Moor" (2003), in dem er das generationstypische Trauma einer Lüneburger Provinzjugend aufarbeitete, sowie sein Roman "Geld oder Leben" (2006), der bereits west-östliche Vergangenheiten zwischen Lüneburger Heide und Brandenburg durchleuchtete.

Der Provinz ist Böttcher auch in seinem neuen Roman "Nachglühen" treu geblieben. Doch sie zeigt ihre Abgründe diesmal an hochsymbolischem Ort: direkt an der einstigen innerdeutschen Grenze. Bereits 1999 hatte Herr Nilsson auf ihrer zweiten Platte "unser Dorf" besungen, "an der Elbe im alten Zonenrandgebiet". Angenehm war es dort selten: "und nicht ein einziger Mensch, den ich mochte, hat über die Witze im ,Dorfkrug' gelacht". Nun hat Jan Böttcher mit dem Roman die Seiten gewechselt: Das Dorf Stolpau an der Elbe liegt im einstigen DDR-Sperrgebiet. Hierher sind zwei Mittdreißiger 17 Jahre nach der Wiedervereinigung zurückgekehrt; ihre Kindheit und Jugend haben sie in Stolpau verbracht. Jo Brüggemann ist Polizist in Hamburg und pflegt jetzt seinen Großvater Fritz. Jens Lewin war Journalist in Göttingen und ist mit seiner (West-)Frau Anne gekommen, um den "Deichkrug", die Gastwirtschaft seiner Eltern, zu übernehmen.

Doch hinter dem Schein der Normalität verbergen sich die Schatten der DDR-Vergangenheit. Die Geschichte glüht nach. Und die Skatspieler in Stolpau wissen: "Hier trinkt man kain Ladde Makjado." Jens kann über die Witze in seinem "Deichkrug" ebenfalls nicht lachen: Den "roten Hans", Jo Brüggemanns Vater und früher SED-treuer "Freiwilligen Helfer der Grenztruppen", schmeißt der frischgebackene Wirt unter Ohrfeigen aus seinem Lokal. Der Neuanfang kann Jens hier nicht gelingen. Im Kopf hat er Erinnerungen an die Verhöre in der Kaserne der Grenztruppen, nachdem der 16-Jährige 1985 am Republikgeburtstag ein von ihm selbst verfasstes satirisches Kasperletheater aufgeführt hatte. Und er denkt an den mysteriösen, inzwischen weltberühmten Fotokünstler Petr Jablonski, einst Jens väterlicher Freund, der als "Asi" im Holzschuppen am Dorfrand wohnte. Und es gab damals noch etwas.

Die Depression, in die ihr Mann verfällt, bleibt derweil für die patente Anne rätselhaft. Sie weiß zwar, dass Jens in der DDR im Jugendknast saß. Doch seine ganze Geschichte hat er ihr nie erzählt. Anne lernt den eigenartigen Jo Brüggemann kennen und es kommt, wie es kommen muss. Gegen Ende des Romans, nach einem heimlichen abendlichen Kneipenausflug der beiden nach Hamburg, haben sie Sex nicht im Hotel, sondern in einem backsteinernen Trafo-Turm in der Nähe des Dorfes - übrigens die einzige missglückte Passage des Buches. Gleich darauf erfährt der Leser jene Geschichte aus Komik und Ernst, Abenteuer und Feigheit, die Jo seit August 1987 schuldhaft an seinen einstigen Freund Jens und an diesen Turm im Grenzgebiet kettet.

Erstaunlich ist die Präzision, mit der die Dorfatmosphäre, die Stimmung der späten DDR und das "Sperrgebietsgrenzdorfkinderzimmer" beschrieben werden: Ja, genau so war es. Der Westler Böttcher hat den Erzählungen seiner Ostler aufmerksam gelauscht. Also taucht die Redewendung "zu Ostzeiten" korrekt auf und für Insider die weithin vergessene "Fahne mit dem großen Loch in der Mitte": die schwarzrotgoldene DDR-Flagge, der im Revolutionsherbst 1989 überall im Land das Wappen herausgeschnitten wurde. Kein falscher Ton schleicht sich bei Böttcher ein - eine bemerkenswerte Recherche- und Anverwandlungsleistung. Zudem ist das Buch förmlich hingeschrieben auf eine Verfilmung mit August Diehl und Florian Lukas in den Hauptrollen: lakonisch-witzige Dialoge, herbe Elblandschaft, personalisierte Vergangenheit, die nicht vergehen will, sowie der Krimiplot mit Showdown und Hubschraubereinsatz. Der Osten liefert einfach die stärkeren deutschen Geschichten. Und am Ende kapituliert der Westen vor der düsteren östlichen Bedrohung: Die immer noch unwissende, verzweifelte Anne flieht, "weil ich nicht mehr kann".

Vor zwölf Jahren hat der Soziologe Heinz Bude die DDR treffend als "realexistierende Traum- und Trostlandschaft" der Westdeutschen beschrieben. Alleen, Kopfsteinpflaster, vom Leben gezeichnete Gesichter und Häuser: "Da waren noch Geschichten möglich, die man sich im großen Konsumverein nicht vorstellen konnte. Der Osten wurde zu einem phantastischen Raum vitaler Erregung und seelischen Trosts." Diese westliche Projektionsbeziehung hat bis heute Bestand; die Erfolge der ostdeutschen Literatur im Westen zeugen auch davon, von Ingo Schulze bis Clemens Meyer. Vom östlichen Hallraum profitiert Jan Böttchers Roman ebenfalls; das Historiendrama namens DDR mit seinen den Alltag prägenden existenziellen Situationen erfährt hier seine Wiederaufführung.

Doch Böttchers literarische Eroberung der ostdeutschen Provinz folgt keiner Projektion; der westdeutsche Autor sieht im Osten nicht mehr "den matten Glanz von edler Einfalt und stiller Größe" (Bude). Jan Böttcher erzählt einfach von der fortwirkenden Macht der Geschichte, ohne dabei in das übliche bedeutungsschwangere Raunen zu verfallen. Kunstwillen und Kunstfertigkeit des Autors halten sich allerdings - noch? - in Grenzen. Nicht alle sprachlichen Klischees sind getilgt; ästhetische Revolutionen werden nicht angezettelt. Ein Symptom ist dieser Roman dennoch: einmal für jene gern heraufbeschworene Erzählweise eines leserfreundlichen neuen Realismus, zum anderen für eine langfristige Tendenz kulturellen Zusammenwachsens.

Womöglich wird man dereinst sagen, dass die erste wirklich gesamtdeutsche Literatur ihren Ursprung hatte im Ost-Berliner Laboratorium der grauen goldenen Neunzigerjahre. Allmählich bekommt diese junge Literatur ernsthafte Konturen; "Nachglühen" beweist es. Vielleicht sollte zunächst nun der Leipziger Clemens Meyer antworten und seinen nächsten Roman über Lüneburg schreiben.

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