Literatur aus dem Gastland Slowenien: Ein Land in Mitteleuropa
Atemprotokolle, Familienromane, Gesellschaftskritik und Bienen: Eine Reise durch die Literatur Sloweniens, Gastland der Frankfurter Buchmesse 2023.
Am Fuße der Julischen Alpen liegt der See von Bled, in der Mitte eine Insel, auf der eine steile Steintreppe zu einer Kirche führt. Bled ist eines der bekanntesten Postkartenmotive Sloweniens und der Ort, an dem das Writers-for-Peace-Komitee des PEN International seit 1984 seine jährliche Konferenz abhält.
Ausgerechnet das kleine Bled im kleinen Zwei-Millionen-Einwohner-Land Slowenien hatte sich zu dem Ort entwickelt, an dem Autoren verfeindeter Staaten oder Gruppen sich trafen: Israelis und Palästinenser, Türken und Kurden, US-Amerikaner und Russen oder Chinesen.
Ausstellung
In dem in Wabenform gestalteten Gastland-Pavillon zeigt die internationale Buchausstellung „Books on Slovenia“ ab 18. Oktober aktuelle Titel slowenischer Autor*innen in Übersetzung und Bücher über das Gastland. Zahlreiche Diskussionsveranstaltungen zu Literatur und Politik, zu Nachhaltigkeit und Dichtung begleiten die Ausstellung. Der Pavillon befindet sich im Forum, auf Ebene 1.
Rahmenprogramm
Kunstinstallationen, Konzerte und Ausstellungen mit Künstlern aus Slowenien finden in der ganzen Stadt statt. Am 19. Oktober wird die slowenischen Kult-Band Laibach ein exklusives Deutschland-Konzert in der Jahrhunderthalle in Frankfurt geben.
Neuerscheinungen
Eine Übersicht über alle Neuerscheinungen und Übersetzungen aus dem Slowenischen finden Sie auf der Homepage der Frankfurter Buchmesse.
Auch in der slowenischen Literatur werden bis heute Weltkonflikte bearbeitet: die beiden Weltkriege, das sozialistische Jugoslawien, der Unabhängigkeitskrieg der frühen 1990er Jahre. Zudem wirbt das Land damit, mit die höchste Dichterdichte der ganzen Welt zu haben, gemessen an Köpfen und Quadratmetern. Tatsächlich erscheinen jährlich ungefähr 3.500 Bücher (davon 300 Gedichtbände) – das ist gemessen an der Einwohnerzahl doppelt so viel wie in Deutschland.
Slowenien ist Gastland
Einiges davon ist nun im Zuge des diesjährigen Auftritts als Gastland der Frankfurter Buchmesse auch in deutscher Übersetzung erhältlich.
Miha Kovač, der Kurator des slowenischen Auftritts, erklärte bei einer Pressekonferenz in Frankfurt, dass die Slowenen nur deshalb als Nation und Land überlebt hätten, weil sie so viel gelesen hätten. Was für andere Staaten das Militär, ist für die Slowenen eben das Bücherlesen. Dadurch, so Kovač, hätten die Slowenen analytisches Denken trainiert, und das habe sie fit für die Unabhängigkeit gemacht. Ob das nun der Wirklichkeit entspricht, sei dahingestellt, schön erzählt ist es allemal.
Neben Romanen, Graphic Novels, Sach- und Kinderbüchern findet sich tatsächlich eine außergewöhnlich große Zahl von Übersetzungen slowenischer Dichterinnen und Dichter in den aktuellen Programmen der deutschen Verlage. Da wäre die äußerst umfangreiche Anthologie „Mein Nachbar auf der Wolke“, die einen weitreichenden Einblick in die Vielfalt der slowenischen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts gibt.
Gedichte und Essays
Da wären die erstmals übersetzten Gedicht- und Essaysammlungen des „slowenischen Rimbaud“ Srečko Kosovel („Mein Gedicht ist mein Gesicht“), da wäre der Band mit bisher unübersetzten Gedichten des legendären Regimekritikers, Börsenbrokers und Kulturattachés Tomaž Šalamun („Steine aus dem Himmel“), und da wären die neuen Bücher zeitgenössischer Lyriker wie Aleš Šteger („Atemprotokolle“) Uroš Prah („Erdfall“) oder Anja Zag Golob („dass nicht …“).
Golob, die zu den Shootingstars der slowenischen Dichterszene gehört, kritisierte im Gespräch mit der taz, dass Slowenien sich zwar als Land der Dichter vermarkte, aber viel zu wenig dafür tue, dass die Lyrik im eigenen Land wieder mehr gelesen und verlegt wird.
Golob ist eine der promintentesten Publizistinnen Sloweniens, was auch daran liegt, dass sie nicht nur Dichterin, sondern auch politische Kolumnistin ist, die für ihre scharfe Kritik bekannt ist.
Fast könnte man sagen, dass Kritik ein wesentlicher Bestandteil slowenischer Kunst ist. Besucht man beispielsweise am See von Bled die Kirche St. Martin, steht man schmunzelnd vor dem Fresko des legendären Malers Slavko Pengov. Das „Letzte Abendmahl“, das er hier in den 1930er Jahren auf die Wände gemalt hatte, zeigt anstelle von Judas Iskariot das Gesicht des sowjetischen Politikers Wladimir Iljitsch Lenin.
Hitler und Mussolini als Hampelmänner
Das Vorbild dafür war ein anderer slowenischer Maler, der für diese Form einer subtilen Kritik international berühmt geworden war: Tone Kralj, der zwischen 1922 und 1952 in über 40 Kirchen Bibelfiguren mit den Gesichtern von Mussolini oder Hitler malte, die als Mörder, Henker oder Hampelmann erschienen.
Diese leicht verschmitzte, subversive und mit historischen Vergleichen arbeitende Kritik der Kunst zieht sich bis heute durch Slowenien, man denke nur an Slavoj Žižek oder die Gruppe Laibach.
Wie es sich für ein Land Mitteleuropas gehört, ist die Historie, vor allem die des 20. Jahrhunderts, in der slowenischen Literatur immer noch ein großes Thema, das es zu verarbeiten gilt.
Die anlässlich der Messe nun neu übersetzten Romane setzen sich mit Faschismus, Kommunismus und slowenischer Identität auseinander und wie die Großwetterlagen sich auf die familiären, die dörflichen und die urbanen Milieus auswirkten. Oft handelt es sich um klassische Familienromane.
Reiche Deutsche, slowenische Bauern
So wird beispielsweise in Vinko Möderndorfers „Die andere Vergangenheit“ (Residenz Verlag) das zweisprachige Dorf Dolina über drei Generationen hinweg porträtiert. In Dolina haben die reichen, deutschen Wald- und Sägewerkbesitzer seit jeher das Sagen und treffen auf die mehrheitlich slowenischen Bauern und Arbeiter, auf den Bürgermeister und Gastwirt Novak, später auf die Partisanen. Möderndorfer zeigt die großen Schwierigkeiten, aber auch die großen Momente, die so eine multikulturelle Gemeinschaft mit sich bringt.
In Roman Rozinas „100 Jahre Blindheit“ ist es die Familie Knap, in die 1900 der kleine Matija geboren wird und sein Leben lang blind bleibt. Rozina porträtiert mit seinem Roman, wie das 20. Jahrhundert durch Industrialisierung, Krieg und Emanzipationsbewegung die Familie vor immer neue Herausforderungen stellt.
Mojca Kumerdeys „Chronos erntet“ (Wallstein) beginnt mit den Sätzen: „Das Land durchlebte moralisch-meteorologisch-medizinische Katastrophen. Genau wie im Alten Testament, wie das Volk feststellte.“ Ein toller Einstieg, der im Prinzip der erste Satz der allermeisten Romane sein könnte. Kumerdey erzählt in ihrem die Geschichte einer Bauerntochter, die sich im 16. Jahrhundert gegen das Patriarchat wehrt, und zeigt, wie zwischen Aufklärung und Aberglaube Fährten in Diktatur und Unterdrückung führen.
Kampf um Autonomie der Frauen
Von den Schwierigkeiten der Emanzipation handelt auch der neue Roman der Kärntner Slowenin Maja Haderlap „Nachtfrauen“ (Suhrkamp). Sie erzählt von Mira, die in Wien das Leben einer Akademikerin führt und nach Slowenien fahren muss, weil ihre alternde Mutter Anni Hilfe braucht. Diese Rückreise ist eine Begegnung mit ihrer eigenen und der Vergangenheit ihrer Familie und vor allem mit der der slowenischen Frauen aus dem Dorf. Anhand von drei Generationen wird der Kampf um individuelle Autonomie dieser Frauen erzählt.
„Waben der Worte“ heißt übrigens das Motto des slowenischen Auftritts in Frankfurt. Es wurde gewählt, weil Slowenien nicht nur die meisten Dichter, sondern auch die meisten Imker hat. Tatsächlich entstand nur zehn Kilometer vom See von Bled entfernt die moderne Imkerei: Der von dort stammdende Anton Janša war erster Hofimker in Wien. Seine Techniken werden bis heute beim Imkern verwendet und an seinem Geburtstag, am 20. Mai, wird der Welttag der Bienen gefeiert.
Und schließlich ist die aus Slowenien stammende „Krainer Biene“ die zweitmeistverbreitete Bienenart der Welt und gilt als fleißig, ruhig und bescheiden. Das ist schon sehr lustig, denn die Biene erinnert an die Vorurteile, mit denen man die Slowenen gerne aufzieht.
Vorurteile haben aber auch die Slowenen. Der Autor Vojnović beispielsweise beschäftigt sich in seinem Roman „18 km bis Ljubljana“ mit den Vorurteilen der Slowenen gegenüber Menschen anderer Nationalität. Andrej Blatnik wiederum behandelt in „Platz der Befreiung“ die Vorurteile, die die Slowenen gegenüber dem Kapitalismus und der Unabhängigkeit pflegten. Ein Urteil über die slowenische Literatur und Dichtung kann man sich jetzt jedenfalls in Deutschland ganz gut selbst bilden.
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