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Literat Domenico Starnone über 68„Lügen ist leichter“

Der italienische Autor Starnone beschreibt in seinem Roman „Auf immer verbunden“ die Folgen von 1968 fürs Private und die selbst gewählten Käfige der Moral.

War 68 ein Aufbruch aus der Enge der Kleinfamilie? Foto: Unsplash/delfi de la rua
Interview von Elettra de Salvo

taz am wochenende: Herr Starnone, Ihr Roman „Auf immer verbunden“ ist die Geschichte einer Ehe. Es ist das schonungslose Abbild einer Familie im Italien der 70er Jahre. Die Lektüre kann emotional enorm aufwühlend sein.

Domenico Starnone: Beruhigungsmittel kauft man in der Apotheke, Bücher müssen hingegen keine tröstende Funktion haben. Im Gegenteil, wenn ich Kafka zitieren darf, sie sollen wie ein Erdbeben „die Kraft einer kalten Axt haben, die dich voll in die Brust trifft, ansonsten nützt das Lesen nichts“.

Was ist das Besondere an der von Ihnen geschilderten Ehe?

Ich erzähle die Entwicklung einer Ehe. Die ersten zwölf Jahre gemeinsames Glück mit zwei Kindern in Neapel. Dann jedoch erstickt wie bei vielen Paaren die Beziehung irgendwann in Routinen. Es folgen Untreue und mutwilliges Verlassen des Ehepartners wegen einer jüngeren Frau. Aber die neue Liebe kann die alte Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern nicht wirklich ersetzen. Und so kehrt Aldo nach vier Jahren nach Hause zurück. Weitere Jahrzehnte vergehen, Aldo und Vanda leben nun als älteres Ehepaar in Rom. Die Wunden der früheren Verletzungen scheinen geheilt. Doch plötzlich bricht die alte Narbe wieder auf. Und das wird für alle Beteiligten sehr schmerzhaft.

Ein Thema, das Sie schon in Ihrem früheren Roman „Via Gemito“ beschäftigt hat.

In „Via Gemito“ ging es mir um die Verwandlung der Familienkonstellation in Italien von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre. Und später bei „Die erotische Autobiografie von Aristide Gambia“ geht es um die Sexualerziehung eines jungen Mannes während dreier Jahrzehnte. Und bei „Auf immer verbunden“ steht die Veränderung der sexuellen Beziehung zwischen Mann und Frau in den 70ern im Vordergrund.

1943 geboren, gelten Sie als ein Sohn des italienischen 68. Man las Marx, Lenin, Trotzki und Alexandra Kollontai, die die Befreiung der Sexualität von bürgerlicher Ehe und Familie forderten, von den Keimzellen des kapitalistischen Staats. So gesehen „muss“ Aldo seine Untreue beichten. Hätte er aber nicht besser geschwiegen?

Im Interview: 

1943 in Neapel geboren, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Journalist und Publizist u.a. für L’Unità, il Manifesto, la Repubblica, Corriere della Sera und für die Satirezeitschriften Cuore und Tango.

Für „Via Gemito“ hat er 2001 den bedeutendsten Literaturpreis Italiens bekommen, den Premio Strega. „Auf immer verbunden“ ist in der Übersetzung von Christiane Burkhardt soeben bei dva erschienen. 180 Seiten, 18 Euro

Natürlich hätte man so weitermachen können wie im 18. Jahrhundert. Aldo und Vanda heiraten in einer Zeit, in der es in Italien noch kein Scheidungsrecht gibt und außereheliches Zusammenleben vor allem für die Frau als Schande gilt. Die beiden wollen ein solides Ehepaar sein, nur eben etwas weniger konservativ als früher. Doch Vanda ist fest davon überzeugt, dass ihre Ehe bis zum Lebensende halten wird, ihr bedeutet die Tradition etwas. Aldo hingegen spürt den neuen Wind, der durch Italien fegt, nimmt die Möglichkeit wahr, sich erneut zu verlieben. So ist die eine am Boden zerstört, weil ihre heile Welt zugrunde geht, der andere ist voller Lebenskraft, weil er eine neue Welt entdeckt.

Das haut aber auch für Aldo nicht ganz hin.

Seine neu entdeckte Dimension der Freiheit wird ihm langsam zerbröckeln. Die Gesellschaft hat sich zwar etwas verändert, doch auch wieder angepasst. Aldo hält es nicht mehr aus und kehrt zurück in die Familie. Doch diese Rückkehr hat keine heilende Wirkung. Sie wird zu einer gemeinsamen Tortur: Er ist von Schuldgefühlen geplagt und sehnt sich nach der Freiheit zurück; Vanda nimmt ihn wieder auf, quält ihn und sich aber weiter mit ihrem Groll. Insgesamt eine falsche Versöhnung, eine falsche Vergebung,

Also wäre es besser gewesen zu lügen. Ist es nicht der Drang nach Wahrheit, der das ganze Drama verursacht?

Die Wahrheit zu sagen war in den 70ern eine moralische Pflicht. Sie auszusprechen bringt jedoch auch Unheil und Leid mit sich. Keine Institution in der Gesellschaft verträgt die Wahrheit, lieber organisiert sich die Welt um eine Lüge, um eine Illusion. Das ist viel leichter.

Sie schreiben aber auch: „Die Familie ist die einzige gesellschaftliche Lebensform, zu der wir fähig sind.“ Ist also wirklich jede Alternative dazu gescheitert – Polyamorie, Menages à trois, „Großfamilien“? Wie war das mit der Kommune 1 in Berlin oder in Italien mit Dario Fo und Franca Rame, die die offene Zweierbeziehung nicht nur künstlerisch propagierten, sondern sie auch in ihrer Lebenspraxis umzusetzen versuchten?

Das waren und sind immer noch große Versuche, die alten, aus der industriellen Revolution hervorgegangenen Familienmodelle zu hinterfragen, zu verändern. Diese Prozesse sind aber auf halbem Wege stecken geblieben, wie so viele Aufbrüche dieser Zeit. Viele unserer Schmerzen oder das Leid bei den Jungen resultiert aus dem alten Konstrukt Familie, das nicht mehr funktioniert. Aber bis jetzt gibt es kein von der Gesellschaft legitimiertes Alternativmodell, um das Zusammenleben, die Liebe, sexuelle Beziehungen, Geburt und Kindererziehung anders zu gestalten.

Die Tochter sagt im letzten Teil Ihres Buches: „Das Einzige, was unsere Eltern verbindet, ist das Leid, das sie einander ihr Leben lang zufügen.“ In Italien wächst bis heute die Zahl der Ehen, aber auch der Scheidungen. In Deutschland hingegen hat sich die Zahl der Eheschließungen halbiert. Und jede zweite Ehe wird geschieden. Sind die Deutschen freier oder einfach „weniger katholisch“ als wir Italiener?

Wahrscheinlich: weniger katholisch.

Reden wir über die Schuldgefühle der Männer und die Wut der Frauen. Beide Seiten gehen die Liebe und die Familie anders an. Wie war das mit den marxistischen Analysen? Die bürgerlich-kapitalistische Institution Familie bedeutet auch die Ausbeutung der Frau.

Das ist ohne Zweifel so. Ohne den zumeist doppelten und dreifachen Einsatz der Frauen würde die Institution Familie völlig scheitern. Die Frauen stehen oft alleine da, auch in den Großfamilien. Gerade in den kultivierten Milieus ist die Mitarbeit der Männer häufig sehr schwach. Und in den wohlhabenden Familien sind es wieder Frauen, die die Hauptarbeit leisten. Allerdings bezahlte, Pflegekräfte, Putzfrauen. Paradoxerweise quälen sich gerade die Ausgebeuteten in ihren Käfigen, haben Angst auszubrechen. Sie wissen, es könnte noch schlimmer kommen.

Das Gebilde „Familie“ bleibt also in jeder Hinsicht eine Falle für alle Beteiligten.

Sie ist der Ursprung aller repressiven Institutionen: Gefängnis, Kaserne, Schule. Man wird darin entweder verrückt oder ein Revoluzzer. Sie kann aber auch ein Fluchtpunkt sein: Zwölf Jahre harmonisches Familienleben wie bei Aldo und Vanda sind heute doch eine Rarität geworden. Man hilft, liebt, schützt sich gegenseitig – zumindest eine Zeit lang. Es gibt aber auch Paare, die 50 Jahre zusammen und glücklich sind.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Eine Frage an den Essayisten Starnone. Italien hat Anfang März gewählt, viel Protest, viele Menschen weit rechts, keine klaren Mehrheiten. Was kommt da auf uns zu?

Die Situation ist komplex. Die wirtschaftliche Lage ist nicht gut, die Armut in Süditalien schreitet voran. Die früheren Regierungen haben ihre Wahlversprechen in der Regel nicht eingelöst. Hinzu kommt die neue, komplizierte Parteienkonstellation. All das verspricht wenig Gutes. Mitte-links hat die Wahlen verloren. Doch die Demokratische Partei (PD) bleibt die einzige Kraft, die ein Bündnis zwischen der Fünf-Sterne-Bewegung mit der rechten Lega von Salvini verhindern kann.

Die PD sollte also nicht in die Opposition gehen?

Meiner Meinung nach hat die PD sogar die Pflicht, sich nicht zurückzuziehen. Das Mitte-links-Lager hat viele Stimmen an die Fünf Sterne verloren. Die Leute haben also eindeutig in diese Richtung votiert. Natürlich muss man Grillo und die Fünf-Sterne-Bewegung mit Vorsicht betrachten. Sie vereint auch Kräfte aus ganz anderen Richtungen, aber sie ist anders als die politische Rechte zu beurteilen. Es hängt also vieles davon ab, wie Mitte-links sich verhalten wird. Wenn man zuvor mit Berlusconi und den Rechtsparteien koalieren konnte, darf man sich jetzt nicht zurückziehen und sollte besser in die Verantwortung gehen.

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