Linken-Abgeordnete über Meşale Tolu: „Keine Anzeichen für Entspannung“
Meşale Tolu darf aus der Türkei ausreisen. Heike Hänsel ist Prozessbeobachterin und vermutet dahinter den bevorstehenden Besuch von Staatspräsident Erdoğan.
Anfang der Woche wurde das Ausreiseverbot für die deutsche Journalistin und Übersetzerin Meşale Tolu aufgehoben, die nun am Sonntag zurück in ihre Heimatstadt Ulm reisen will. Tolu war vergangenes Jahr am 30. April 2017 bei einer Razzia in ihrer Istanbuler Wohnung verhaftet worden. Die türkische Justiz wirft ihr Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vor. Nach sieben Monaten Untersuchungshaft, bei der sie anfänglich ihren dreijährigen Sohn dabei hatte, wurde Tolu Ende Dezember aus der Haft entlassen. Die türkische Justiz verhängte allerdings ein Ausreiseverbot.
Mit der Linken-Abgeordneten Heike Hänsel, die als Prozessbeobachterin aus Deutschland den Fall von Meşale Tolu von Anfang an begleitet hat, haben wir über die Aufhebung des Ausreiseverbots gesprochen.
taz: Frau Hänsel, in einem Statement auf Ihrer Homepage steht, dass Sie hinter der Aufhebung des Ausreiseverbots für Meşale Tolu den bevorstehenden Besuch des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan in Deutschland vermuten. Versucht die Türkei, die diplomatischen Wogen mit Deutschland zu glätten?
Ich denke, das liegt sehr nahe. Die Aufhebung des Ausreiseverbots kam jetzt recht überraschend. Meşale Tolu hat über ihren Anwalt mehrfach gegen das Ausreiseverbot Widerspruch eingelegt, der jedes Mal abgelehnt wurde. Jetzt hat der zuständige Richter ohne Angabe von Gründen diesem stattgegeben, obwohl der Staatsanwalt dafür plädiert hatte, das Ausreiseverbot weiter aufrechtzuerhalten. Ich finde, dass es sehr in die zeitliche Nähe des Besuchs von Staatspräsident Erdoğan fällt und man da durchaus einen Zusammenhang herstellen kann.
Welche Auswirkungen wird die Ausreiserlaubnis von Meşale Tolu auf die deutsch-türkischen Beziehungen haben?
Ich könnte mir vorstellen, dass die Bundesregierung dieses Zeichen dafür verwenden möchte, um zu einer Normalisierung der Beziehungen zu kommen. Ich halte das für einen völlig verfehlten Zeitpunkt. Man muss zusehen, dass unschuldige türkische oder wie in diesem Fall deutsche Staatsbürger in der Türkei nicht unter fadenscheinigen Begründungen verhaftet werden.
Meşale Tolu ist aufgrund einer konstruierten Anklage, in der jegliche Beweise fehlen, inhaftiert worden. Sie war meines Erachtens eine politische Geisel des Erdoğan-Regimes, so wie die anderen derzeit inhaftierten deutschen Staatsbürger auch. Es ist völlig selbstverständlich, dass diese Geiseln endlich freikommen, da darf es keinen Deal geben. Es kann doch nicht sein, dass die Bundesregierung auch noch dankbar sein soll dafür, dass ihre Staatsbürger*innen, die unrechtmäßig festgehalten werden, endlich freikommen.
In der Türkei sind derzeit sieben weitere deutsche Staatsbürger*innen aus politischen Gründen inhaftiert, darunter auch Adil Demirci, der wie Meşale Tolu für die linke Nachrichtenplattform Etha tätig war. Könnte sich die Ausreiseerlaubnis von Meşale Tolu positiv auf den Fall von Demirci oder auch in den anderen Fällen auswirken?
Heike Hänsel, Jahrgang 1966, wurde in Stuttgart geboren. Stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, Leiterin des Arbeitskreises Außenpolitik ihrer Fraktion und Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Als Prozessbeobachterin hat sie den Fall von Meşale Tolu von Beginn an begleitet.
Ich hoffe, dass auch alle anderen deutschen Staatsbürger möglichst schnell freigelassen werden. Das betrifft im Übrigen auch Suat Çorlu, den Mann von Meşale Tolu, auch wenn er nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Es ist wichtig, dass auch sein Ausreiseverbot endlich aufgehoben wird. Sonst herrscht wieder dieselbe Situation, dass die Familie getrennt ist. Ich hoffe auf eine weitere positive Entwicklung, sodass auch Suat Çorlu ausreisen und die Familie vereint in Deutschland zusammenleben kann.
Sie stehen in Kontakt zu Meşale Tolu. Wie sehen ihre Pläne nach der Rückkehr nach Deutschland aus?
Sie wird erst einmal in Ulm bleiben, dort hat sie auch einen Kitaplatz für ihren Sohn. Sie wünscht sich, dass ein wenig Normalität in ihr Leben einkehrt, das vor anderthalb Jahren völlig auf den Kopf gestellt wurde. Sie war mit ihrem Sohn im Gefängnis, der auch die Festnahme seiner Mutter miterleben musste, als die Polizei schwer bewaffnet in die Wohnung eingedrungen ist. Da gibt es sehr viel zu verarbeiten.
Die angespannten deutsch-türkischen Beziehungen scheinen sich mit der türkischen Währungskrise langsam wieder zu entspannen. Welche Haltung und konkrete Maßnahmen erwarten Sie von der Bundesregierung in Bezug auf die Türkei?
Ich sehe nach wie vor keine Anzeichen für Entspannung. Mehr als 150 Medienschaffende sitzen im Gefängnis, dazu kommen viele oppositionelle Politiker und Aktivisten. Es gibt eine Säuberung des Justizsystems im Sinne des Staatspräsidenten. Die Besetzung von Afrin im Norden von Syrien durch die türkische Armee hält an, und auch die ständigen Angriffe auf die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei und im Norden des Irak. Das Präsidialsystem mit seinen diktatorischen Zügen stellt eine Art des Ausnahmezustands dar.
Die Bundesregierung muss gerade jetzt den Druck auf die türkische Regierung erhöhen. Alle politischen Gefangenen müssen freikommen, die Türkei muss zum Rechtsstaat zurückkehren. Die politische Opposition darf nicht länger systematisch unterdrückt und verfolgt werden. Deshalb darf es jetzt keine Finanzhilfen geben, wie sie aktuell von der Bundesregierung ins Spiel gebracht wurden, sondern ein sofortiger Stopp der Waffenexporte in die Türkei, keine militärische und geheimdienstliche Kooperationen mit der Türkei, sowie ein vollständiges Aussetzen der Hermes-Bürgschaften. Wir können nicht mit nur einer positiven Entwicklung – wie der Ausreise von Meşale Tolu – zurück zur Tagesordnung kehren. Es ist nicht die Zeit für eine Normalisierung der Beziehungen zur Türkei.
Werden Sie dabei sein, wenn Meşale Tolu am Sonntag nach Deutschland kommt?
Ich kann leider nicht dabei sein, aber Kolleginnen und Kollegen von mir werden vor Ort sein. Ich freue mich, dass Meşale Tolu wieder in ihre schwäbische Heimat Ulm zurückkehrt und werde sie sobald wie möglich dort besuchen.
Der Prozess gegen Meşale Tolu wird am 16. Oktober fortgesetzt, erwarten Sie ein Urteil?
Ich gehe nicht davon aus, dass zu diesem Zeitpunkt ein Urteil gefällt wird. Aber ich werde als Prozessbeobachterin weiterhin vor Ort sein und mich für die Forderung stark machen, dass dieses Verfahren endlich eingestellt wird.
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