Linke und Migranten zu Gauck: Bürger gegen Joachim Gauck
Alle lieben diesen Mann. Wirklich alle? Linke Aktivisten und Migrantenvertreter stimmen nicht in den Jubel über den Präsidentschaftskandidaten Gauck ein.
BERLIN taz | Nein, er ist nicht der Kandidat aller Herzen. Zwar freuen sich etliche frühere DDR-Bürgerrechtler über die Aussicht ihres Mitstreiters auf das höchste Amt im Staate. Und die Spitzen von CDU, FDP, SPD und Grünen erwarten ein geschlossenes Abstimmungsverhalten, wenn es darum geht, Joachim Gauck zu wählen. Doch in der linken Öffentlichkeit, an der grünen Basis und unter Migranten regt sich Kritik.
Den Unmut der Grünen-Basis formuliert Hans-Christian Ströbele. 2010 habe er Gauck noch gewählt, "danach habe ich das bedauert", gibt er zu. Gauck fehle "die Empathie für die soziale Bewegung. Ich bin nicht überzeugt von dem Kandidaten." Und Sina Doughan von der Grünen Jugend findet: "Wir erwarten, dass er Politik für alle Menschen macht - statt das Engagement von Menschen, die in der Occupy-Bewegung auf die Straße gehen, ins Lächerliche zu ziehen."
Auch Kirchenkollegen wie der Theologe und Ex-DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer sehen Gauck kritisch: "Er singt ein Loblied auf die Freiheit. Ich vermisse das Loblied auf die Gerechtigkeit", so Schorlemmer zur taz. "Denn es gibt zu viele, die sich Freiheit nicht leisten können." Er kritisiert, dass sich Gauck "zur Erlöserfigur stilisieren" lasse. "Unser Herr Jesus Christus erscheint gegen ihn klein", ätzt Schorlemmer - und gibt zu, ihm sei "Klaus Töpfer, der einen weiteren Horizont hat, in diesem Amt viel lieber gewesen".
HARTZ IV
Im August 2004 bezeichnete Joachim Gauck es als "töricht und geschichtsvergessen", dass die ostdeutschen Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen unter dem
Titel "Montagsdemonstrationen" stattfinden. Im Juni 2010 lobt er Gerhard Schröder: "Als Schröder einst die Frage aufwarf, wie viel Fürsorge sich das Land noch leisten kann, da ist er ein Risiko eingegangen. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder."
SARRAZIN
Als "mutig" bezeichnete Joachim Gauck Thilo Sarrazin. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom Oktober 2010 räumte er allerdings ein, das Sarrazin-Buch "Deutschland schafft sich ab" nicht gelesen zu haben. Distanziert zeigte sich Gauck hinsichtlich der biologistischen Rassismen Sarrazins. Zu seinen Thesen über vermeintlich erblich bedingt weniger intelligenten Kindern sagte Gauck: "Wenn er das behauptet, dann würde ich das auch kritisieren. Aber ich würde mir sehr sorgfältig überlegen, ob ich den Typ aus der SPD ausschließe."
OCCUPY
Zur Hoch-Zeit der weltweiten Proteste der Occupy-Bewegung verspottete Gauck bei einer Veranstaltung der Zeit im Oktober 2011 die damit verbundene Diskussion. Er nannte die Finanzmarkt- und Antikapitalismusdebatte "unsäglich albern" und zeigte sich davon überzeugt, dass der Protest schnell verebben werde. Es sei eine romantische Vorstellung, zu glauben, man könne "sich der Bindung von Märkten entledigen". "Ich habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren", so Gauck in Anspielung auf die Staatsbanken der DDR. Angesichts dieser Erfahrung erschien es ihm zweifelhaft, dass Bankeinlagen sicherer wären, wenn Politiker das Sagen hätten.
Die Schriftstellerin Daniela Dahn zweifelt: "Gauck ist kein Versöhner, er polemisiert und klagt an. So hat er auch seine Behörde geführt", erinnert sie sich. "Er war nicht objektiv und hat unterstützt, was in sein konservatives, teilweise reaktionäres Weltbild passte", so ihr Urteil. Anetta Kahane von der Amadeu-Antonio-Stiftung fürchtet gar, mit Gaucks Betonung des Patriotismus und seinem Totalitarismusbegriff, der DDR-Unrecht und Drittes Reich gleichsetze, "ins Fahrwasser einer Relativierung der NS-Vergangenheit zu geraten".
Dieter Graumann, der dem Zentralrat der Juden vorsitzt, ist da zuversichtlich: Gauck sei nicht immer bequem, aber er werde "frischen Wind in die Politik bringen", ist er überzeugt.
"Romantisches Bild vom Kapitalismus"
Unter Migranten ist der Kandidat besonders umstritten. Mit seinen Äußerungen über Thilo Sarrazins Buch habe er "Irritationen ausgelöst", räumt Kenan Kolat von der Türkischen Gemeinde in Deutschland ein. "Wir hoffen aber, dass er jetzt Zeichen setzt, dass er der Präsident aller Menschen in Deutschland werden will", sagt Kolat.
"Sein romantisches Bild vom Kapitalismus ist stark geprägt von seinen Erfahrungen in der DDR", glaubt die Schriftstellerin Hatice Akyün. Sie stichelt: "Mein Vater schiene mir besser geeignet, weil er das Land besser kennt. Er lebt schon seit 50 Jahren in der Bundesrepublik - und damit 30 Jahre länger als Gauck."
Ähnlich ist das Stimmungsbild bei sozialen Bewegungen. Detlev von Larcher, der bis 2011 im Attac-Koordinierungskreis aktiv war, ist alles andere als begeistert von Gauck: Er fürchtet, "dass sein Freiheitsbegriff auch die Freiheit der Finanzmärkte meint, die uns ins Desaster geführt hat", so von Larcher. "Damit wäre er der falsche Präsident für diese Zeit."
Auch bei der Occupy-Bewegung herrscht Skepsis. "Angesichts seiner Kommentare sind unsere Erwartungen an Gauck sehr niedrig", sagte Erik Buhn, der das Occupy-Camp in Frankfurt mitorganisiert hat. "Wir haben in Politik und Wirtschaft genügend Menschen, die uns täglich zeigen, wie sehr sie unsere Armut ankotzt", findet Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum: "Einen arroganten Oberlehrer brauchen wir nicht noch als Bundespräsidenten."
Auch in der Antiatombewegung hat sich Gauck wenig Freunde gemacht. Wolfgang Ehmke, Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, sieht in Gaucks Distanz zu den Antiatomprotesten einen "interessanten Widerspruch zu seiner angeblichen Bürgernähe und Herkunft aus dem Bürgerprotest".
Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau, prominenter Gegner von Stuttgart 21, findet: "Wer sich so abfällig über die neuen Bürgerbewegungen äußert, der steht zu sehr in Gefahr, der Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft zu mehr Bürgerbeteiligung im Wege zu stehen." Und die ebenfalls als S-21-Gegnerin bekannte Kabarettistin Christine Prayon frotzelt: "Gauck findet Hartz IV prima, Occupy albern, Sarrazin mutig und die Entscheidung, aus der Atomkraft auszusteigen, gefühlsduselig. Was lernen wir daraus? Aus der Kernkraft auszusteigen schützt leider nicht vorm Super-Gauck." Mitarbeit: J. Hagmann, M. Kreutzfeldt, N. Michel, S. Reinecke, U. Schulte
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