Linke-Landesvorsitzende im Interview: „Es geht um Flächengerechtigkeit“
Franziska Brychcy und Maximilian Schirmer über das soziale Profil der Partei, Klimaschutz und wie es jetzt mit dem Volksentscheid weitergehen sollte.
taz: Frau Brychcy, Herr Schirmer, seit fünf Wochen bilden Sie zusammen die neue Doppelspitze der Berliner Linken. Was sind die drängendsten Aufgaben, die jetzt anstehen?
Franziska Brychcy: Es geht jetzt darum, dass wir uns als Linke organisatorisch und programmatisch neu aufstellen mit Blick auf die Wahlen 2026. Und natürlich wollen wir bis dahin unsere Oppositionsrolle stark ausfüllen.
Wie steht es denn um die Linke? Ihre Partei hat bei der Wahl über drei Prozent verloren; ist ihre Rolle als führende Kraft in den ehemaligen Ostbezirken los und nun wieder in der Opposition. Wie dramatisch ist die Situation?
Maximilian Schirmer: Wir hatten ein stabiles Wahlergebnis, auf dem wir aufbauen können, aber natürlich liegen jetzt viele Aufgaben vor uns. Dort, wo wir Wählerstimmen verloren haben, müssen wir uns die Frage stellen, warum und ob wir da nahe genug an der Lebensrealität der Leute waren.
Maximilian Schirmer, geboren 1990, seit 2022 Fraktionsvorsitzender in der Bezirksverordnetenversammlung in Pankow
Franziska Brychcy, geboren 1984, sitzt seit 2021 im Abgeordnetenhaus und ist aktuell Sprecherin für Bildungspolitik
Was sind das für Realitäten, an denen Sie nicht dran waren?
Schirmer: Oft sind es in den Bezirken kleinteilige Fragen, die einen großen Unterschied machen. Wir müssen einen stärkeren Fokus auf die Kommunalpolitik legen, auf die Probleme, die die Leute tagtäglich umtreiben. Bekommt mein Kind einen Kitaplatz? Gibt es einen Arzt in der Nähe? Hier gibt es eine soziale Schieflage.
Die Interessen in den Innen- und Außenbezirken gehen ja oft weit auseinander, etwa im Bereich Mobilität und Verkehrswende: Die Reduzierung des Autoverkehrs kommt bei potenziellen Wähler*innen in den Außenbezirken ja meist nicht so gut an.
Schirmer: Verkehr und Mobilität sind soziale Fragen. Uns geht es um Flächengerechtigkeit: Wie teilen wir den immer knapper werdenden Platz gerecht auf? Natürlich gibt es Leute, die zum jetzigen Zeitpunkt aufs Auto angewiesen sind. Wir wissen aber, dass die meisten Wege auch mit ÖPNV, Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt werden könnten, wenn es die Gesundheit zulässt. Wir müssen hier ein Angebot machen: Wenn der ÖPNV gut ausgebaut ist, barrierefrei, bezahlbar und wohnortnah, wenn der Bus vor meiner Haustür fährt, dann lasse ich das Auto eher mal stehen.
Trotzdem sollen in der Wuhlheide in Köpenick 16 Hektar Wald für den Bau der vierspurigen Schnellstraße Tangentiale Verbindung Ost (TVO) gerodet werden. Umweltaktivist*innen haben dagegen mit einer Besetzung protestiert, die auch einige Linke-Politiker unterstützten. Auf Bezirksebene hat sich die Linke allerdings für den Bau ausgesprochen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Brychcy: Mobilität muss auch für die Menschen in den Ostbezirken gewährleistet sein, aber nachhaltig. Die TVO, wie sie jetzt geplant wird, muss in Dimension und Zuschnitt mit allen Beteiligten diskutiert werden – auch unter Umwelt- und Klimaaspekten. Nachhaltige Stadtentwicklung und Mobilität heißt auch bei der TVO, den Dreiklang aus Autoverkehr, Radverkehr und Schiene zusammenzudenken. Wenn ÖPNV-Projekte gebaut werden, kann es natürlich immer sein, dass ein paar Bäume weichen müssen, dafür braucht es dann einen Ausgleich. Wichtig ist uns, die soziale Perspektive und Klimafragen bei der Mobilität mitzudenken, und nicht, wie die aktuelle schwarz-rote Koalition, einseitig Politik fürs Auto zu machen und darüber den Fahrradverkehr völlig aus dem Blick zu verlieren. Bis hin dazu, schon geplante Projekte, die kurz vor dem Abschluss sind und endlich gebaut werden können, einfach zurückzudrehen.
Sie sprechen vom Planungsstopp für Fahrradwege, den CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner verhängt hat. Die Grünen-Fraktion in Friedrichshain-Kreuzberg hat zu zivilem Ungehorsam aufgerufen und beantragt, den Stopp einfach nicht zu befolgen. Was macht die Linke?
Schirmer: Die Interessen der Menschen, die diese Radwege mitgeplant haben, in Bürgerbeteiligungsprozessen mit Anwohnern und Initiativen, werden einfach mit einem Federstrich weggewischt, das grenzt an rechtswidriges Verhalten. Da wurden jahrelang viel Arbeit, Ressourcen und Geld reingesteckt. Wir haben ein Mobilitätsgesetz, das sich eben nicht nur auf Autos bezieht, sondern auch auf den Rad- und Fußverkehr. Auch dieser Senat hat sich an die Gesetze zu halten.
Brychcy: Hier wird die Rückschritts-Koalition ganz deutlich. CDU und SPD sagen, sie wollen die verschiedenen Interessen verbinden, aber sie machen genau das Gegenteil. Dabei sind wir viel zu langsam mit dem Radwege-Ausbau. Wir müssen da endlich vorankommen, damit sich die Menschen sicher in der Stadt bewegen können. Was die Koalition in den wenigen Wochen im Amt auf den Weg gebracht hat, ist fatal. Dabei stehen die Haushaltsberatungen erst an, das besorgt uns.
Wo sehen Sie die größten Gefahren, die von der neuen Regierung ausgehen?
Schirmer: Wir befürchten, dass sich die Stadt weiter spaltet. Man bedient die eigene Klientel und spielt die einen gegen die anderen aus: Autofahrer gegen Radfahrer, die Fußgänger kommen ganz zu kurz, der ÖPNV kommt kaum vor. Es gibt keinen Plan zum Straßenbahnausbau, sondern man setzt alles auf U-Bahnen, die erst in 35 oder 40 Jahren kommen werden. Die Mieten kennen nur noch eine Richtung: nach oben. Es gibt gar keine Idee davon, wie das gestoppt werden soll. Die Leute werden aus ihren Kiezen an den Stadtrand verdrängt. Lebendige, funktionierende Nachbarschaften drohen zu zerbrechen, und dem wird nichts entgegengesetzt, sondern das wird noch verstärkt.
Auch unter Ihrer Regierungszeit wurde das Mietenproblem für die Leute ja nicht kleiner. Wie kann die Linke jetzt glaubhaft Oppositionsarbeit machen nach Jahren in der Regierung?
Schirmer: Wir haben unter anderem den Mietendeckel eingeführt, wodurch die Mieten in Berlin erstmalig wieder gesunken sind. Dann wurde juristisch entschieden, dass Berlin nicht die Kompetenz dafür hat, das ist natürlich sehr bitter. Aber wir wissen jetzt, dass der Bund sie hat. Leider ist die Bundesregierung beim Mieterschutz ein Totalausfall. Berlin könnte aber im Bundesrat darauf hinwirken, dass die Kompetenz genutzt wird und ein bundesweiter Mietendeckel kommt.
Brychcy: Die Aufgabe einer sozialen Stadt ist es, leistbaren Wohnraum bereitzustellen. Wir haben immer gesagt, dass Investoren gar kein Interesse daran haben, sozial und preiswert zu bauen, sondern dass wir vor allem die Landeseigenen stärken müssen, um leistbare Wohnungen zu bauen und selbstredend die Vergesellschaftung umsetzen müssen. Wir stehen weiter fest an der Seite der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen. Beim Volksentscheid sehen wir, dass der Wille der Menschen ignoriert wird und zudem auch kein Konzept für bezahlbare Mieten vorgelegt wird, im Gegenteil. Jetzt soll im sozialen Wohnungsbau ein Segment mit Mieten ab 11,50 Euro pro Quadratmeter geschaffen werden, was die Probleme bei den Menschen, die ganz wenig Einkommen haben, weiter verschärft. Wieder werden die Schwächsten nicht mitgedacht, staatlicherseits viel subventioniert, nach 30 Jahren entfällt die Mietpreisbindung, und die Investoren profitieren.
Am Mittwoch kommt der Abschlussbericht der Enteignungskommission. Wie will die Linke dafür sorgen, dass die Ergebnisse nicht einfach mit einem Vergesellschaftungsrahmengesetz begraben werden?
Brychcy: Die Berliner*innen haben sich entschieden: Es gibt einen erfolgreichen Volksentscheid und der muss auch umgesetzt werden. Wir gehen davon aus, dass die Kommission am Mittwoch final sagt, dass Vergesellschaftung möglich ist, wahrscheinlich unter gewissen Bedingungen. Die Ergebnisse müssen dann schnell in ein konkretes Vergesellschaftungsgesetz überführt werden. SPD, Grüne und Linke haben jeweils Parteitagsbeschlüsse, die die Umsetzung fordern, wenn die Kommission sagt, dass es geht. Wir werden die SPD nicht aus der Verantwortung entlassen. Abgesehen davon steht jeder Senat in der Pflicht, den Volksentscheid umzusetzen. Wir werden dabei gerne mit unserer Expertise unterstützen. Wir haben ja einen Gesetzentwurf vorgelegt, ebenso wie die Initiative.
Während Konzerne weiterhin profitieren, sind auf der anderen Seite immer mehr Menschen durch die hohe Inflation armutsgefährdet. Gewerkschaften und Arbeitskämpfe erfahren einen starken Zulauf. Eigentlich gute Voraussetzungen für eine linke Partei, die auf sozialen Ausgleich setzt. Warum kann die Linke nicht davon profitieren?
Schirmer: Ich glaube, wir können davon profitieren, indem wir konsequent unser soziales Profil weiterentwickeln. Wir werden jetzt stärker mit den Verbänden, Initiativen und Gewerkschaften in den Diskussionsprozess gehen und gemeinsam Ideen für ein soziales Berlin entwickeln. Im September starten wir mit einem ersten Kongress zu Klimagerechtigkeit. Wir werden der Top-down-Politik von Schwarz-Rot, die wir in den vergangenen Wochen sehen konnten, eine Stadt von unten entgegensetzen.
Unter anderem mit dem Vorwurf, die Linke würde den Schwerpunkt nicht ausreichend auf soziale Fragen legen, wird wohl noch in diesem Jahr der Wagenknecht-Flügel die Partei verlassen. Was bedeutet das für die Berliner Linke?
Schirmer: Wir waren immer klar darin, dass wir die soziale Frage nicht gegen andere Themen wie beispielsweise Diversität ausspielen, sondern in solidarischen Debatten um inhaltliche Positionen ringen. Ab dem Zeitpunkt, wo ein Konkurrenzprojekt aufgemacht wird, ist für uns der Punkt erreicht, wo das nicht mehr tragbar ist. Dann ist der Zenit einer Debatte weit überschritten.
Brychcy: Die Menschen knüpfen an die Wahl der Linken konkrete Erwartungen: dass wir für bezahlbaren Wohnraum kämpfen, dass es genug Kita- und Schulplätze gibt, genug Fachpersonal, genug Ärzt*innen vor Ort. Das sind unsere Aufgaben. Öffentlichen Diskussionen über mögliche Abspaltungen erteilen wir eine klare Absage. Das bringt uns nicht nach vorne.
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