Lieferdienst Getir vor dem Aus: Kündigungen im Hauruckverfahren
Den Getir-Ridern geht es an den Kragen. Möglich sind Massenentlassungen ohne Sozialplan oder Abfindung. Ein Anwalt rät, zu klagen.
Nachdem Ende April bekannt wurde, dass sich der Bringdienst für Supermarkt-Lebensmittel ab Mitte Mai aus dem deutschen Markt zurückzieht, sind die ersten Kündigungen bei den Kurierfahrer*innen eingetrudelt. Mehrere Betroffene hätten sich bereits bei ihm gemeldet, sagte Arbeitsrechtsanwalt Martin Bechert, der sich seit vielen Jahren für die Rechte der prekär beschäftigten Rider einsetzt, am Montag der taz.
In den Schreiben, die sie von Getir erhalten hätten, sei ihnen zu Ende Mai außerordentlich gekündigt worden, bereits ab dem 13. Mai würden sie freigestellt. „Von einem Sozialplan oder von Abfindungen ist darin keine Rede“, kritisiert Bechert. Stattdessen werde von den Arbeiter*innen Stillschweigen verlangt.
Laut Business Insider sind von den Entlassungen bundesweit rund 1.200 Mitarbeiter*innen betroffen, davon 800 Fahrer*innen, die meisten in Berlin. Getir soll mittlerweile bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Berlin die Massenentlassungen angekündigt haben, wozu das Unternehmen verpflichtet ist. Die BA äußerte sich auf taz-Anfrage nicht dazu.
Managementnaher Betriebsrat
Das Hauruckverfahren des umstrittenen Lieferdienstes hält Rechtsanwalt Bechert angesichts der knappen Fristen und der Unternehmensstruktur für rechtlich fragwürdig. „Normalerweise wird bei Massenentlassungen der Betriebsrat konsultiert und ein Sozialplan erarbeitet.“ Dass dies auch in diesem Fall geschehen ist, glaubt er nicht.
„Wir haben immer gesagt, dass das ein managementnaher Betriebsrat ist“, so Bechert. Von dem ist aktuell auch nichts zu hören. „Wenn ein Betriebsrat sich bei einer Betriebsschließung nicht auf die Beine stellt, wann dann?“
Plant der Arbeitgeber jedoch in größerem Umfang Personalabbau, ohne einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, haben die Arbeiter*innen Anspruch auf eine Abfindung. „Und die liegt im Ermessen des Gerichts“, so Bechert. Wird der Betriebsrat gar nicht konsultiert, seien die Kündigungen sogar unwirksam.
Der erfahrene Arbeitsrechtsanwalt sammelt derzeit Fälle, um rechtlich gegen die Kündigungen von Getir vorzugehen. Dabei rechnet er sich gute Chancen aus. „Es ist immer dasselbe: Man haut so was raus in dem Glauben, dass die Leute eh nicht klagen, das ist am Ende billiger.“ Das liege auch daran, dass die meisten Rider Migrant*innen sind, die ihre Rechte nicht kennen, viele von ihnen aus Indien. „Wären das Deutsche, würde man das nicht machen.“ Doch wer sich das gefallen lässt, steht am Ende mit leeren Händen da. „Wer nicht klagt, kriegt im Zweifel gar nichts“, so Bechert.
Individuelle Beratungsangebote der Gewerkschaft
Die Gewerkschaften haben sich lange nicht um die migrantischen und dezentral arbeitenden Plattform-Arbeiter*innen bei Getir & Co gekümmert. Mittlerweile hat sich das geändert. Daniel Gutiérrez, Gewerkschaftssekretär bei Verdi, setzt sich für die Rechte der Riders bei Getir ein. „Die Beschäftigten haben keine Tarifverträge und der Betriebsrat bei Getir scheint nur auf dem Papier zu existieren“, sagt Gutiérrez zur taz. Regelmäßige Treffen oder Austausch mit der Belegschaft seien ihm nicht bekannt.
Mit individueller Beratung versuche Verdi, die Rider aufzuklären. „Viele sind Studenten aus dem Ausland und kennen ihre Rechte nicht“, so Gutiérrez. Dann kam das plötzliche Aus und die Gründung eines Betriebsrats war passé. „Das war eine Überraschung für die Rider und auch für die Supervisor“, sagt der Gewerkschafter. Einer habe gerade erst seine Frau aus Indien nachgeholt. Auch wenn schon länger bekannt war, dass es Getir finanziell nicht gut geht, sei dies ein Schock gewesen. Ein Sozialplan ist dem Gewerkschafter nicht bekannt.
Getir selbst begründet seinen Rückzug mit Überlegungen des Hauptinvestors Mubadala, eines Staatsfonds aus Abu Dhabi, der auch bei Flink investiert hat, beide Lieferdienste zusammenzulegen. Demnach soll sich Getir, das 2015 in Istanbul gegründet wurde, auf die Türkei konzentrieren, Flink auf Europa.
Zu der Entlassungswelle heißt es bloß: „Getir drückt seine aufrichtige Wertschätzung für das Engagement und die harte Arbeit aller seiner Mitarbeiter in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und den USA aus.“ Auf taz-Anfrage antwortete das Unternehmen, dass der Betriebsrat bereits im April über die Entwicklungen informiert worden sei.
Kiziltepe fordert Verhandlungen mit Beschäftigten
Für Cansel Kiziltepe, die Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Arbeit (AfA) in der SPD und Senatorin für Arbeit und Soziales in Berlin, ist das zu wenig: „Die Lieferdienste Gorillas und Getir sind in der Vergangenheit durch schlechte Arbeitsbedingungen, die Verhinderung von Betriebsratsgründungen und niedrige Löhne aufgefallen. Die Gründung von Betriebsräten war nur gegen den massiven Widerstand der Geschäftsführungen möglich“, so Kiziltepe zur taz. Auch sie fordert Verhandlungen mit den Beschäftigten und die Vorlage eines Sozialplans.
Darüber hinaus sieht sie angesichts der Union-Busting-Methoden, durch die Lieferdienste immer wieder auffallen, gesetzgeberischen Handlungsbedarf: „Die Verhinderung von Betriebsratswahlen muss zum Offizialdelikt werden. Außerdem bedarf es der Bildung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, damit eine effektive und konsequente Verfolgung solch missbräuchlicher Methoden sichergestellt ist.“
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