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„Lieber politisch leben, als zur Uni gehen“

Viele Themen, die Linke heute umtreiben, beschäftigten schon die Studenten in den 1970er-Jahren. Taz-Autor Reimar Paul erzählt in seinem Buch „In Bewegung“, wie er das Entstehen der linken Proteste in Göttingen erlebt hat

Foto: privat

Reimar Paul

62, hat in seinem Buch „In Bewegung. 1976 bis 1984: Turbulente Jahre in Göttingen“ seine Erlebnisse im Zusammenhang mit den politischen Auseinandersetzungen um Häuserkämpfe, die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensdemonstrationen aufgeschrieben. Aktuelles berichtet er regelmäßig für die taz aus Göttingen.

Interview André Zuschlag

taz: Herr Paul, nach einem Streik der Studierenden auf dem Göttinger Campus schrieben Sie 1976: „Die Uni gehörte uns, und bald gehört uns auch die ganze Welt, ganz bestimmt.“ Woher kam dieser Optimismus?

Reimar Paul: Uns hat da einfach eine Stimmung erfasst. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und in einer niedersächsischen Kleinstadt in die Schule gegangen. Die 68er-Bewegung ist daran völlig vorbeigegangen, und als ich und andere dann nach Göttingen kamen, war das eine völlig andere Welt. Die Stadt war durch die Uni schon politisiert, und dann fängt man in dieser Stimmung und durch eine politisierte Studierendenschaft mit Träumereien an, die natürlich naiv waren. Das war ja keine realistische Einschätzung, aber wir fühlten es so.

Zugleich beklagen Sie die Entpolitisierung, wenn Sie heute über den Göttinger Campus laufen. War damals alles besser?

Es war anders. Natürlich war nicht alles besser, aber die Hochschule war damals politisierter als es heute der Fall ist. Und das kann man beklagen, weil ich mir die Hochschulen auch als Zentren für politische Auseinandersetzungen wünsche.

Göttingen ist ja an vielen Ecken eine Kleinstadt. Zudem ist es, auch mit den vielen Burschenschaften, ein in Teilen extrem konservatives Nest. War die Stadt damals trotzdem auch schon eine linke Hochburg?

Göttingen war schon immer zweigeteilt. Vermutlich war sogar die Mehrheit konservativ und bisweilen reaktionär. Aber die Uni als Ausgangspunkt für politisches Handeln war das Gegengewicht. Das war unser direktes Umfeld, da haben wir uns bewegt. Die vielen anderen EinwohnerInnen haben wir dann vielleicht nicht gesehen oder auch nicht sehen wollen.

Im Buch beschreiben Sie die linken Gruppen in Göttingen, die sich gegenseitig spinnefeind sind. Lag das an inhaltlichen Streitereien?

Das hatte schon überwiegend inhaltliche Gründe, die zu zugespitzten Auseinandersetzungen führten. Aber auch von den Lebensweisen unterschied man sich schon stark. Manche gingen in die Kneipe und hatten lange Haare, andere hatten einen völlig anderen Habitus. Das sorgte natürlich auch für persönliche Differenzen.

Ich wünsche mir Hochschulen als als Zentren für politische Auseinander-setzungen

Viele Themen, die die linke Szene damals bewegten, sind wieder aktuell geworden, zum Beispiel die Wohnraumproblematik und Hausbesetzungen als Reaktion darauf, aber auch der Kampf gegen Neonazis und das Abwehren von Abhörpraktiken der Polizei. Langweilt Sie das heute?

Auf keinen Fall! Ich finde das sehr gut, dass diese Konfliktthemen immer noch da sind und dass darum gekämpft wird. Die Themen unterliegen natürlich gewissen Konjunkturen und es werden immer unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Aber ich freue mich, dass politisch was passiert. Und darin, dass es teilweise noch dieselben Themen sind, zeigt sich ja auch deren Relevanz.

Fast alle Figuren, die im Buch auftauchen, sind eigentlich zum Studieren in Göttingen. So richtig ernst nimmt das Studium aber niemand, vielmehr werden Demos organisiert, Flugblätter geschrieben und verteilt und in den Kneipen diskutiert. Sahen Sie sich als Berufsrevolutionäre?

Tatsächlich haben die meisten von uns zu Ende studiert. Wenn man es mit heute vergleicht, waren das damals aber recht laxe Bedingungen – zumindest in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Studium konnte man tatsächlich nebenbei beenden. Zudem waren auch viele Lehrende links und zeigten viel Verständnis. Den Begriff des Berufsrevolutionärs mag ich nicht, das waren wir auch nicht. Aber wir fanden politisch zu leben wichtiger als die berufliche Vorbereitung an der Hochschule.

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