Liebe heute : Reden ist scheiße
Aron und Elenas Fernbeziehung haut nicht hin. Und wenn sie darüber reden wollen, schon gar nicht.
Von Aron Boks
taz FUTURZWEI, 22.12.2022 | Elena und ich sitzen in einem Weihnachtskonzert in der Dresdner Frauenkirche. Sie mag diese Kirche und ich fand, dass ein Event namens „Jauchzet, frohlocket!“ gerade gut passen würde.
Aron Boks und Ruth Fuentes schreiben die taz FUTURZWEI-Kolumne „Stimme meiner Generation“.
Boks, 27, wurde 1997 in Wernigerode geboren und lebt als Slam Poet und Schriftsteller in Berlin.
Fuentes, 29, wurde 1995 in Kaiserslautern geboren und war bis Januar 2023 taz Panter Volontärin.
Denn Elena ist vor Kurzem zum Studium von Berlin und mir weg nach Dresden gezogen, und das ist schwieriger als gedacht.
Ein Tenor tritt vor den Altar, hebt den Brustkorb und legt seine Worte mit genussvoll geschlossenen Augen über den Klang des Orchesters: „Uuund daaa acht Tage um waren, dass das Kind beschniiitten …“
Nach fünf weiteren Liedern verschwinden wir über den Fluchtweg nach draußen.
„Ich dachte, dass dort fröhlichere Lieder gesungen werden“, sage ich, als wir durch die Dresdner Altstadt gehen. Tausend Sterne sind ein Dom zum Beispiel – das ist ein schönes Lied. Das macht wenigstens Hoffnung! Das bringt gute Laune!”
Elena drückt mich an sich.
„Aber was hast du denn erwartet?”, fragt sie. „Die Veranstaltung heißt doch Weihnachtsoratorium.“
Eine Zukunft in zwei Städten
Um ehrlich zu sein, dachte ich bis eben, dass Oratorium nur ein leicht angeberisches Wort für Konzert bedeutet. Aber darum geht es nicht. Elena und ich sind jetzt in einer Fernbeziehung und mit jedem Tag merken wir beide mehr, dass wir das nicht hinkriegen. Es geht dabei nicht um die lächerlichen zwei Stunden Zugfahrt zwischen uns. Elena hatte fast ihr ganzes Leben in Berlin verbracht und jahrelang auf einen Neuanfang in einer anderen Stadt gewartet. Nach abgebrochenem Studium, Krise und Orientierungslosigkeit war sie schließlich weggezogen.
Um sich voll und ganz auf diese neue Stadt einzulassen, muss sie ihre Vergangenheit in Berlin hinter sich lassen, sagt sie. Aber auch ich lebe ich dort. Und mit mir eine Person, die sie liebt, aber auch die ständige Erinnerung an eine Phase, die zuletzt ausschließlich aus Streit, Versöhnung und wachsender Beziehungsarbeit bestand. Arbeit, die sie in Gedanken auch immer in Berlin hält und den Blick für Neues einengt.
Deswegen bin ich einfach nach Dresden gefahren, um mit ihr zu besprechen, wie wir das in Zukunft in zwei Städten, aber doch zusammen hinkriegen. Nur kam bisher immer irgendetwas dazwischen.
Lass uns später drüber reden!
Am Tag meiner Anreise haben wir uns mit Elenas Mitbewohner:innen betrunken und unser Reden auf den nächsten Tag verschoben. Am nächsten Tag hatten wir zum späten Nachmittag erst mal in einem sudanesischen Imbiss gefrühstückt, um uns für das Problemgespräch zu stärken. Dann überraschte uns aber eine Freundin von Elena und wir alle fanden die Idee super, zuerst zum Kartenspielen mit einem Studienfreund und später in einen Jazz Club zu gehen.
Um allein zu sein, haben wir dann ein Hostel bezogen und waren zwar allein, jedoch kein Stück zukunftsorientierter. Und heute suchen wir nun wie versessen nach einem Ort, der uns nicht mehr ablenkt – also nicht zum Trinken oder Rauchen verleitet. Schließlich hatten wir uns nach dem WG-Besäufnis vorgenommen, dass wir klar sein müssten, um richtig lösungsorientiert miteinander zu reden.
Noch nie hatte ich mehr Lust, irgendwo ein Bier zu trinken, und Elena habe ich noch nie so angestrengt auf ihre Rauchfrei-App schauen sehen, die ihr zum neuen Tag der Abstinenz gratuliert, während ich stumm neben ihr hergehe. Elena sagte vorhin, die letzten Tage hätten sich wie ein Traum angefühlt. Das klingt schön. Aber nicht nach Gegenwart und schon gar nicht nach Zukunftsplanung. Eher nach Vergangenheit. Ich frage lieber nicht nach. Jetzt noch nicht.
Abschied vermeiden
Morgen fahre ich schon wieder zurück nach Berlin. Abschied nehmen, wie ich das hasse. Dieses Drücken um mein Herz zieht sich bis in meine Mundhöhle hoch und verklebt meine Lippen.
Ich kenne dieses Gefühl, seit ich ein Kind war und Gäste meiner Familie am Morgen ihrer Abreise beim Frühstück saßen. Die Taschen schon gepackt, die langen Autofahrten nach Hause, die Arbeit der nächsten Tage in ihren Köpfen. Ihre Leben. Kein Raum mehr für große gemeinsame Gespräche oder tolle Erlebnisse – alle am Abbauen der Heiterkeitskulissen.
Dieses Bild habe ich nicht loslassen können – immer ist da dieses Bedürfnis, am Augenblick festzuhalten und die Traurigkeit darüber, dass die gemeinsam verbrachte Zeit nun einfach weg ist. Aber Elena hatte in den letzten Tagen eben auch nicht gerade das Gespräch forciert und so sitzen wir jetzt doch in einer Bar, in der überall Aschenbecher stehen und sechs Zapfhähne vom Tresen lächeln.
Wir könnten einfach zusammenziehen!
Wir bestellen einen alkoholfreien Gin Tonic und eine heiße Zitrone.
„Und, hast du dir Gedanken gemacht?“, fragt Elena.
„Ich könnte immer noch nach Dresden ziehen“, sage ich. Ich finde das gar nicht so doof. Denn damit wäre das Problem der unmöglichen Fernbeziehung gelöst.
„Aron, das ist doch totaler Quatsch“, sagt Elena.
„Aber ich liebe dich!“
„Du liebst aber auch Berlin.“
Das stimmt. Vielleicht hätte ich bei unserem Kennenlernen nicht ständig darüber reden sollen, dass ich in keiner anderen deutschen Stadt als der Hauptstadt leben wollen würde. Aber auch so fußt mein gerade formulierter Umzugsplan eigentlich nur auf der Ungewissheit der nächsten Tage und dem Wunsch, mich nicht von Elena verabschieden zu müssen.
Meine kindliche Aversion gegen solche Situationen hat sich im Erwachsenenalter immer wieder gezeigt. Wenn Freund:innen für längere Zeit das Land verließen, war ich beim Abschiedshappening als einziger nicht vor Ort. Meistens hatte ich plötzlich zu diesem Zeitpunkt einen ganz wichtigen Termin, den ich unter keinen Umständen verschieben konnte. Ich könnte ja die Person immer noch noch kurz vor ihrer Abreise verabschieden, hatte ich mir immer eingeredet, woraus dann natürlich nie etwas wurde. Auch die Abschieds-Telefonate verschob ich, so weit es nur ging. Etwas in mir sträubte sich immer dagegen.
„Was denkst du?”, fragt Elena.
Ich deute auf meine Zigaretten.
„Ich würde kurz nach draußen gehen.“
„Du kannst auch vor mir rauchen!“, sagt Elena und nimmt meine Hand. Ich sehe zu der doofen heißen Zitrone vor mir und dann zum Kellner. Jetzt zu warten, bis wir konsequent achtsam mit Stress umgehen können, ist doch mindestens genauso wenig lösungsorientiert, denke ich.
„Ein Bier bitte!“, sage ich.
„Für mich auch!“, ruft Elena. „Und kann ich eine Zigarette haben?“
Auf Wiedersehen
Während wir so vor uns hin reden, lächelt Elena mit offenem Mund, ohne dass ihre Augen Freude zeigen, und schickt jedes Mal, wenn sie den Rauch ihrer Zigarette ausbläst, einen weiteren Hauch hinterher. Als wollte sie sicher gehen, dass der Rauch auch wirklich von ihr weicht. Das macht wirklich niemand außer ihr, wenn sie verunsichert ist.
Später im Hostel fangen wir an zu weinen und erzählen uns, wie aufgeregt wir nach unseren ersten Treffen vor mehr als einem Jahr waren und wie traurig alles jetzt ist – solange, bis ich praktisch ohne Abschied zum Zug rennen muss. Ich fahre nach Berlin. Und Elena bleibt in Dresden.
In der S-Bahn denke ich wieder daran, wie ich als Kind nervös und stumm am Küchentisch gesessen und darauf gewartet hatte, dass die Gäste endlich gehen. Wie ich meine Freund:innen nie richtig verabschiedet habe und nicht anrufe, wenn sie dann schließlich abgereist sind. Besser geht es mir dadurch aber nie. Es fehlt trotzdem immer etwas.
Vielleicht hatte ich bisher solche Angst vor einem Abschied, weil ich lieber in einer Art Zwischenwelt bleiben will. Eine, in der niemand abreisen, aber eben auch nicht ankommen kann. Aber Menschen bewegen sich ja ständig auf einen zu oder von einem fort, ob man nun will oder nicht.
Wer sich nicht richtig verabschiedet, kann die Trennung dennoch nicht aufhalten. Das macht nur das Wiedersehen noch schwieriger.
Die Kolumne „Stimme meiner Generation“ wird von der taz Panter Stiftung gefördert.