piwik no script img

LidokinoEndlich auf dem richtigen Dampfer

■ James Marsh ist die große Entdeckung und der Lido-Rave die beste Party seit 110 Jahren

Ob Nico diese Hommage verdient hat? Denn es ist ihre Fotografie, die in Philippe Garrels „Le vent de la nuit“ auf dem Schreibtisch jenes Mannes steht, dem „all tomorrow's parties“ irgendwann gleichgültig geworden sind. Denn Serge (Daniel Duval) interessiert nur eines: sein Selbstmord. Bevor wir dies aber verstehen, wird uns noch eine ganze andere Geschichte erzählt, die von Hélène (Catherine Deneuve) und ihrem jungen Liebhaber Paul. Auch Hélène unternimmt bald darauf einen Selbstmordversuch.

Garrels „Nachtwind“ transportiert also eine ziemlich unersprießliche Geschichte, die viel mit seiner eigenen Biographie zu tun zu haben scheint. Außer Nico – mit der Garrel von 1970 bis zu ihrem Unfalltod 1984 lebte und arbeitete – musste auch noch der Mai 68 mit verarbeitet werden und die Vorliebe des Regisseurs zu einem ganz bestimmten Autotyp. Immerhin dachte er einem roten Porsche Carrera die vierte Hauptrolle zu. Man möchte sagen, glücklicherweise.

Denn der Wagen sieht wenigstens so gut aus wie Catherine Deneuve, und anders als Paul und Serge hält er erfreulicherweise die Klappe und röhrt nur in seinem satten Porschesound vor sich hin. Ansonsten inspirierte er den Regisseur zu dessen schönsten Einstellungen, und die sind nun, anders als der Plot, wirklich von großer Eleganz.

Dass sich bei Garrel gleich das halbe Personal umbringen will, wundert den, der zuvor „The Wisconsin Death Trip“ des britischen Regisseurs James Marsh gesehen hat, eigentlich gar nicht. Dieser Film in der Reihe Nuovi Territori ist die große Entdeckung, auf die man während eines Festivals immer hofft. Zu den Aufnahmen eines lokalen Fotografen, der in der Zeit zwischen 1890 und 1900 in Black River Falls, Wisconsin, arbeitete und die David Marsh um zwischengeschaltete Spielszenen ergänzt, zitiert der Regisseur die Berichte der dort ansässigen Lokalzeitung.

Es stellt sich nun heraus, dass Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger und religiöse Ängste die fotografierten, vornehmlich norwegischen und deutschen Immigranten regelmäßig in den Wahnsinn trieben. Mord, Selbstmord, Brandstiftung und Drogenmissbrauch (vor allem Alkohol und Kokain) sind damals in der 1854 gegründeten, an sich völlig respektablen Gemeinde in einem Ausmaß an der Tagesordnung, die wahrlich verblüfft. Jede einzelne dieser Unglücksgeschichten gerät in der lakonischen Auflistung zu einem Stück absurder Literatur, ungleich welthaltiger als jeder der in Venedig sonst gezeigten Filme.

So zündet ein sechzehnjähriges polnisches Mädchen in der Nacht zwei Scheunen an und setzt am darauf folgenden Morgen den Stall und schließlich auch das Wohnhaus ihres Arbeitgebers in Brand. Sie wird gefasst und erklärt, sie habe Heimweh nach Polen, darüber hinaus sei das Leben in Black River Falls zu eintönig, sie habe deshalb Unterhaltung gesucht.

Gleichförmig ist auch das Leben von Liu Lin (Tao Lan) verlaufen, über siebzehn Jahre Gefängnis hinweg. Mit sechzehn erschlug sie im Streit ihre Schwester, nun, am chinesischen Neujahr, darf sie wegen guter Führung erstmals zwei Tage aus dem Gefängnis heraus, zu ihrer Familie. Doch die ist auf diesen überraschenden Besuch überhaupt nicht vorbereitet.

Aus kargen Anfangsszenen heraus, die schlicht und illustrativ die Geschichte in Gang zu bringen suchen, entwickelt sich „Seventeen Years“ gegen Ende hin zum großen, zu Tränen rührenden Melodram. Und Zhang Yuan, der Regisseur, erweist sich als eine Art chinesischer Douglas Sirk.

Ausgerechnet er und seine Produktion ließen yesterday's party steigen, genauer gesagt, einen ravenden Musikdampfer zu Wasser, der bis heute früh die Lagune auf und ab schipperte. Die beste Party seit 110 Jahren und die große Kur von der Filmmusik. Sozusagen endlich auf dem richtigen Dampfer, da, wo der Techno spielt.

Brigitte Werneburg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen