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Leuchten der MenschheitWolfgang GastMax Frisch, Staatsschutz, ahoi!

Kurz vor seinem Tod erhielt der Schriftsteller Max Frisch Einsicht in das, was man seine „Fiche“ nennt. Fiche steht in der Französisch sprechenden Schweiz etwas verniedlichend für Karteikarte. Stasiakte aber wäre der treffendere Begriff.

Am 1. August 1990, dem Na­tio­nalfeiertag, nahm Max Frisch den Brief der Schweizer Bundesanwaltschaft entgegen. Er enthielt eine Kopie der Karteikarten, die der Schweizer Staatsschutz über ihn angelegt hatte: 13 eng beschriebene Seiten. Frisch, damals schon schwer erkrankt, lektorierte, so könnte man sagen, die Akten. Der dabei entstandene Text mit dem Titel „Ignoranz als Staatsschutz?“ wanderte ins Regal und ist glücklicherweise jetzt nach einem Vierteljahrhundert von den Herausgebern David Gugerli und Hannes Mangold veröffentlicht worden (Suhrkamp Verlag, Berlin 2015).

Die Fichen dokumentieren fein säuberlich, wie Frisch über vierzig Jahre lang überwacht worden war. Die jahrzehntelange Observation war skandalös. Diese Fichen, sagte Herausgeber Gugerli in ein Interview, könne man durchaus als helvetische Pendants zu den Stasiakten bezeichnen. Ein großer Teil der Bevölkerung sei in einer Intensität und Dauer vom Staatsschutz beobachtet worden, wie man es sich nicht hatte vorstellen können. Seit 1945 standen fast eine Million Schweizer, also ein Sechstel der Bevölkerung, unter Überwachung.

In den späten 1980er Jahren war nach und nach ans Licht gekommen, dass die Schweizer Bundesbehörden und auch die kantonalen Polizeibehörden seit Anfang des 20. Jahrhunderts rund 900.000 solcher Fichen angelegt hatten („Fichen-Skandal“). Offiziellen Archiven zufolge waren mehr als 700.000 Personen und Organisationen erfasst. Die Beobachtungsaktivitäten erfassten zuerst ausländische Anarchisten, Schweizer Sozialisten und Gewerkschafter, unwillkommene politische Flüchtlinge und Ausländer, die ausgewiesen wurden.

In den Zeiten des Ost-West-Konflikts wurden dann vor allem linke Politiker und Gewerkschafter überwacht. Offizielles Ziel der Fichierung war es, das Land vor aus dem Ausland gesteuerten subversiven Aktivitäten zur Destabilisierung des Systems und der Errichtung einer kommunistischen Diktatur zu schützen.

Frischs Fiche versammelte viel zu viele, falsche und völlig wertlose Informationen. Der damals 79-jährige Autor zerschnitt die Karteikarten, klebte immer einen Streifen mit einem Eintrag auf ein Blatt, spannte ihn in die Schreibmaschine und kommentierte. Schnipsel für Schnipsel. Wo die Angaben aus Gründen des Quellenschutzes geschwärzt war, urteilte er unerschütterlich „Stimmt“.

Der Autor ist Redakteur der taz

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