Lernen in Finnland: Gymnasium als kleine Uni
Ein Schüler des besten deutschen Gymnasiums verliebt sich - in eine finnische Schule. Ein Erfahrungsbericht.
Ich war am Järvenpään Lukio. Das ist eine 2003 eröffnete Schule in der Stadt Järvenpää nördlich von Helsinki. Ist es euch jemals passiert, dass ihr überlegt habt, noch mal an eine Schule zum Lernen zurückzukehren? Nein? Mir kam der Gedanke schon beim Betreten des Gymnasiums von Järvenpää, an dem man in zwei bis vier Jahren das Abitur ablegen kann.
Statt dunkler Gänge beherrschen hier hohe Räume und eine Aula das Bild, die sie "Areena" nennen. Wie ein verglastes Atrium zieht sich die Areena nach oben. Auf drei Etagen verlaufen rundrum die Gänge, man fühlt sich wie in einer modernen Galerie. An den verglasten Balkonen sind Lernplätze, an denen Schüler ihre Aufgaben machen. In der Cafeteria unten verbringen die Schüler ihre Zeit bei Mittagsessen und Livemusik.
Die Tische sind sauber. Der Boden scheint gerade erst geputzt, die Blumen zeigen sich in feinstem Grün - da möchte man gar nicht erst an deutsche Schulen denken. Blumen? Undenkbar! Dafür Kaugummis auf den Böden und Staub in den Ecken. Die Schüler gehen sehr sorgfältig mit ihrer Schule um. Kein Wunder. "1996 machten wir mit den Schülern und den Lehrern einen ersten Entwurf für eine Miniuniversität", erzählt Rektor Atso Taipale. "Wir wollten die Rolle des Schülers ändern. Vom Schüler zum Studenten, hieß die Devise."
Schon das Gymnasium, das Constantin Hoferer selbst besuchte, ist eine außergewöhnliche Einrichtung. Das Marbacher Friedrich-Schiller-Gymnasium ist die beste deutsche Penne. Der Schulpreisträger hat das Motto "Jeder kommt ans Ziel" - kein Vergleich zum üblichen deutschen Rausschmeiß-Gymi. Dennoch war Constantin von den Socken, als er während eines sozialen Jahres an einer Kita das Gymnasium in Järvenpää entdeckte. Am liebsten, so schreibt er, hätte er dort sofort wieder die Schulbank gedrückt. TAZ
Verknüpft mit diesem Konzept sind nicht nur mehr Freiheiten, sondern auch mehr Verantwortlichkeiten. Die Schüler können selbst entscheiden, wie lang sie am Lukio studieren. Die langsameren, aber auch die "Kursbegeisterten" bleiben gerne mal vier Jahre. Wer es eilig hat, erledigt die 75 benötigten Kurse in zwei Jahren. Den Schülern bietet sich dabei in 8, 13 oder 18 Lernperioden, die jeweils durch Testwochen abgeschlossen werden, eine Auswahl aus rund 300 Kursen. In 21 Schulstunden à 75 Minuten wird der Schüler dann auf die Tests am Ende der Periode vorbereitet.
Das Kursspektrum erstreckt sich von den gängigen Sprachen wie Englisch, Deutsch, Spanisch, Französisch über Psychologie bis hin zur Gesundheitserziehung. Die Schüler können 14 Kurse komplett frei wählen. Angeboten werden zum Beispiel Fotokurse, Kunst und Grafik und so weiter. Ein Schwerpunkt liegt auf der musikalischen Erziehung. Zum einen gibt es Gitarrenkurse. Fast alle Instrumente, aber auch die Möglichkeit, während der Freistunden einen der Proberäume zu benutzen. In schalldichten Räumen haben die Schüler alles zur Verfügung, was das Musikerherz begehrt. Ein Anreiz, sein musikalisches Können zu verbessern, ist natürlich das angeschlossene Tonstudio, hier kann, wie soll es auch anders sein, in Kursen Musik überspielt, bearbeitet und produziert werden. Es klingt wie ein Traum. Aber es ist einfach normal hier.
Man merkt sofort, dass die Schule viele Möglichkeiten bietet, spezielle Talente zu fördern oder Schüler zu motivieren. Den einen mögen die auf dem neusten Stand eingerichteten Computerräume eine Motivation sein, dem nächsten die Spiegelreflexkameras, die sich die Schüler ausleihen können, und dem anderen die gut sortierte Bibliothek, die sich voll verglast in den Lichtschacht der Areena erstreckt. Verglichen mit den raren Bibliotheken, die ich an deutschen Schulen sehen konnte, gleicht diese einem kleineren Buchladen.
Natürlich trägt auch die hohe Schülerzahl von etwa Tausend zur großen Vielfalt der Schule bei. Ähnlich wie an meinem eigenen Schule, dem Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach, entstehen dadurch Möglichkeiten, die eine kleine Schule einfach nicht hat. Es gibt mehr Lehrer, die wiederum spezielle Qualifikationen haben und damit viele, viele Projekte möglich machen. Das Chinaprojekt in Järvenpää ist so ein Beispiel, es erinnert an den Chinesisch-Unterricht an meiner Marbacher Schule.
Fast scheint es mir, als ob ich an diesem finnischen Gymnasium nur zufriedene Gesichter sehe. Egal welchen Flügel der Schule ich betrete. Überall wird geschwärmt und von Harmonie geredet. In der Deutsch-Klasse der kommenden Abiturienten kann ich dann - endlich - zwei Kritikpunkte aufnehmen. Die Beschwerde über teilweise nicht funktionierende Computer in der Aula ist wohl eher der Ratlosigkeit auf meine Frage nach Kritik geschuldet. Lehrerin Annukka Hieta aber hat wirklich Sorgen. "In Konferenzen und Evaluationen kommen wir immer wieder auf das Thema Kommunikation und den Verlust von Schülergemeinschaften zu sprechen." Durch das Kurssystem ist die Gefahr natürlich größer, dass ein Schüler auf der Strecke bleibt. Die Lehrer müssen also auch untereinander viel kommunizieren um dem entgegenzuwirken. "Wir probieren, Einzelgänger gezielt aufzuspüren, und geben ihnen Möglichkeiten, sich zu integrieren."
Die 17-jährige Milja aus der Deutschklasse fügt aber hinzu, dass "man eigentlich in jedem Kurs Leute hat, mit denen man sich gut versteht". Der Freundschaftskreis weitet sich also auch über den eigenen Jahrgang aus - und davon profitieren nicht nur die jüngeren Schüler. Auf die Frage, ob sie Nachhilfe nehme, lacht sie. "Kein Wunder, die deutschen Schüler sind meistens sehr fleißig", erklärt mir Frau Hieta, es gebe aber einmal pro Woche Sprachstützkurse in Englisch und Schwedisch, das sind die beiden verpflichtenden Fremdsprachen. Ich bohre weiter, möchte wissen, ob es reicht, nur auf einem Gebiet Nachhilfe zu geben, ob es nicht viele Schulabbrecher gibt und wie garantiert wird, dass niemand durchs Netz fällt.
Die Antwort ist so einfach und dabei so ungewöhnlich für uns: Schuldetektive. Die Stadt beschäftigt Sozialarbeiter, die Schüler aufspüren, die zum Beispiel nach den neun Jahren Gesamtschule keinen zweiten Bildungsweg einschlagen. Man tritt an diese Jugendlichen heran und versucht sie zu motivieren. Nicht selten kommen Schüler nach einem Jahr Pause wieder ans Lukio von Järvenpää und holen zum Beispiel in der zusätzlich angebotenen Abendschule das Abitur nach. Neben ihrem Job beim örtlichen Supermarkt.
Hausaufgabenbetreuung fällt natürlich bei Schülern ab 16 Jahren weg. Aber trotzdem fehlten mir im Gesamtpaket des Lukio Betreuungsangebote wie das Mathe-Tutorium meiner Schule in Marbach. Die Schüler sind weitestgehend sich selbst überlassen. Wenn ein Kurs nicht bestanden wird, kann man ihn ja wiederholen und muss nicht noch mal alle Kurse belegen.
Was mir während meinem Besuch dennoch auffällt, ist die Unterrichtsform. Der Lehrer steht im Mittelpunkt. Zuweilen ruhen 36 Augenpaare auf ihm. Die Klassen sind sehr groß, und die Schüler bekommen per Frontalunterricht den Stoff für ihre Tests eingepaukt. Vor den Testwochen heißt es dann Bücher wälzen - denn pro Kurs gibt es ein Buch, das übrigens auch aus der Bibliothek ausgeliehen werden kann.
Wenn man sich das gesamte finnische Bildungssystem anschaut, wird einem klar, wie das Land im Norden Europas der Seriensieger der Pisa-Studie sein kann. Im Kindergarten scheint sich zunächst nichts von deutschen Kitas zu unterscheiden. Bei genauerem Hinsehen fällt aber auf, dass die Erzieher alle studiert sind - ganz anders als bei uns. Meistens sind auch in den Gruppen der Ein- bis Dreijährigen sogenannte Lehrer eingesetzt. Ein großer Unterschied zur Früherziehung in Deutschland ist wohl die Vorschule. Dort werden die Kinder auf die Schule vorbereitet, so dass die Lehrer in den ersten Klassen bereits anspruchsvoller unterrichten können. An der Deutschen Schule in Helsinki erzählt mir eine Lehrerin, dass der Unterschied zu deutschen Schülern enorm ist. Die Schüler seien aufnahmefähiger und könnten sich besser konzentrieren als die Erstklässler in ihrem Heimatland.
Für mich scheint es oft so, als ob es eine Art Schulkult in Finnland gibt. Die Schüler fiebern ihrem Ylioppilas-Juhlat entgegen, da gibt es nach 12 Jahren eine Abiturientenmütze, die wiederum jedes Jahr zum ersten Mai getragen wird. Beim Massenpicknick im größten Park Helsinkis zählt man ohne Mütze zu den Außenseitern. Der Kult betrifft auch das Studium. Alle Studenten haben Overalls, ihrer Fakultät entsprechend, die sie zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten aus dem Schrank holen. Helsinki strahlt besonders an Wochenenden in den knalligen Farben der Overallträger. Studieren gehört zum guten Ton und wird auch gut vom Staat unterstützt.
Das finnische System aufs deutsche zu übertragen, ist natürlich größenwahnsinnig. Allein dass Finnland knapp zwei Prozent mehr seines Sozialprodukts für Bildung aufwendet als Deutschland. Wollte man das erreichen, müsste man rund 40 Milliarden Euro mehr für deutsche Bildungseinrichtungen ausgeben - pro Jahr! Wichtig ist es meiner Meinung nach, Orte des Lernens mit Orten des Vergnügens zu verknüpfen. Schulen müssen sich von den staubigen, niedrigen, teils veralteten Gebäuden verabschieden und sich modernisieren. Das Gebäude ist zwar nur die Schale der Bildung, aber mal ehrlich, wer beißt schon gerne in eine braune Banane?
Ich möchte noch mal auf meine Schule eingehen, das Friedrich-Schiller-Gymnasium. Vor zwei Tagen war ich in Lettland bei einer Freundin, die ich unserer Marbacher internationalen Klasse kennengelernt habe. Als wir uns das Video zum Konzert der Klasse angeschaut haben, hab ich mich zurückgesehnt. Das Schiller-Gymnasium hat mir viele Möglichkeiten gegeben. Gerne würde ich meine Ideen einfließen lassen, weil ich der Meinung bin, dass das Schiller-Gymnasium schon ziemlich nahe an einer wirklich vorzüglichen Bildungseinrichtung ist.
Herzliche Grüße aus Finnland Constantin
REKTOR ATSO TAIPALE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett