Lenin-Statue in Berlin: Bloß nicht den Kopf verlieren
Nach der Wiedervereinigung wurde in Berlin die Lenin-Statue abmontiert. 24 Jahre lag der tonnenschwere Kopf am Stadtrand – und wurde fast vergessen.
Als im Februar 2022 Russland die Ukraine angriff, wurden in vielen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes aus Protest die letzten verbliebenen Statuen des Gründers der Sowjetunion entfernt. Fast vergessen ist, dass in Berlin einst die größte Lenin-Statue der DDR stand. Wer am heutigen Platz der Vereinten Nationen nach Spuren sucht, findet keine Hinweise mehr darauf, dass dort, wo heute ein unscheinbarer Brunnen aus Granitblöcken steht und der Großstadtverkehr über eine vielbefahrene Kreuzung vorbeirauscht, bis kurz nach der Wiedervereinigung eine 19 Meter hohe Statue des Sowjetführers das Stadtbild dominierte.
Am 19. April 1970, zu Lenins 100. Geburtstag, wird die Statue und die dahinterliegenden Wohnhäuser feierlich durch Staatschef Walter Ulbricht eingeweiht. 200.000 Berliner:innen sowie Gäste aus der DDR und dem sozialistischen Ausland sind anwesend.
Es ist nicht die einzige Statue Lenins, die anlässlich des wichtigen Jubiläums in der DDR enthüllt wird, aber es ist eine Enthüllung mit Prestigecharakter – nicht nur, weil Lenin die ideologische Ausrichtung des Landes, den Marxismus-Leninismus, repräsentiert, sondern auch weil die Statue ein Symbol für die deutsch-sowjetische Freundschaft ist.
Mit sozialistischem Pathos
Das Standbild ist der krönende Abschluss eines größeren städtebaulichen Konzepts, das 1965 mit dem Bau des Fernsehturms begonnen hat und sich in den folgenden Jahren vom Alexanderplatz über die Fischerinsel bis hinein nach Friedrichshain erstreckt.
Im Archiv des Filmmuseums Potsdam lagern mehrere Amateurfilme über diese architektonische Neugestaltung Ost-Berlins durch das Wohnungsbaukombinat Berlin – damals das größte der DDR. Neben bis vor Kurzem unbekannten Aufnahmen, die die Arbeiten am Kopf der Lenin-Statue und den Bildhauer Nikolai Wassiljewitsch Tomski bei der Begutachtung der Statue zeigen, dokumentieren Filme der Amateurfilmgruppe des Wohnungsbaukombinats die verschiedenen Phasen der Bauarbeiten.
Einer davon ist der 16-mm-Film „Leninplatz und der sozialistische Wettbewerb“ von 1970. In Schwarz-Weiß-Bildern und mit sozialistischem Pathos präsentiert er die Arbeiten am Prestigeprojekt Leninplatz. Er zeigt die Grundsteinlegung durch Ulbricht am 7. November 1968, deutsche und sowjetische Bauarbeiterbrigaden, die zusammen gegen Wind und Wetter um den Titel „Kollektiv der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ ringen, und Arbeiter:innen aus anderen Betrieben, die, ermutigt durch die Strahlkraft des Bauvorhabens, den Kolleg:innen in Berlin aus allen Teilen der Republik zu Hilfe eilen.
Good Bye, Lenin!
Sogar junge Pionier:innen und freiwillige Helfer:innen aus Berlin und sozialistischen Bruderstaaten helfen mit ihrem Subbotnik, ihrem „freiwilligen“ Arbeitseinsatz, dass die Statue pünktlich fertig wird. Die Zeitung Neues Deutschland berichtet neun Tage vor der Einweihung in einem großen Artikel von den nächtlichen Bauarbeiten und das Staatsfernsehen bringt mit seiner Dokumentation „Kennen Sie Kurt B …?„ ein Porträt über Kurt Bromberg, den Chefbrigadier der Bauarbeiter am Leninplatz.
Nach der Fertigstellung dominiert die Statue aus dunklem Sandstein lange das Stadtbild Ost-Berlins und wird in den folgenden Jahren zu einer Pilgerstätte für die zahlreichen politischen Gruppen in der DDR, die anlässlich des Geburtstags Lenins jedes Jahr Blumen zu seinen Füßen niederlegen. Im Jahr ihrer Einweihung ziert das Bild der Statue sogar eine 70-Pfennig-Briefmarke der DDR.
Trotz dieses Ruhmes beginnt mit dem Ende der DDR auch das Ende der Statue. In dem Film „Good Bye, Lenin!“ von 2003 schwebt die halbe Lenin-Statue virtuell durch Berlin, doch tatsächlich sind ihre Stunden bereits viel früher, kurz nach der Wiedervereinigung, gezählt.
Ein Relikt aus vergangener Ära
Am Morgen des 8. November 1991, die DDR ist seit etwas mehr als einem Jahr Geschichte und die Lenin-Statue wird zunehmend als Relikt einer vergangenen Ära betrachtet, thront der 19 Meter hohe Lenin ein letztes Mal auf seinem 26 Meter breiten Sockel aus rotem Granit.
Wenige Wochen zuvor hat die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Friedrichshain mit 40 zu 33 Stimmen dem Antrag von CDU und SPD zugestimmt, das Denkmal zu demontieren und den Leninplatz umzubenennen. Und das, obwohl die Statue seit 1979 auf der Denkmalliste der DDR und seit 1990 auf der Gesamtberliner Denkmalliste steht und viele Bürger:innen und Fachleute sich für den Erhalt der Statue ausgesprochen haben.
Anders als für seinen Genossen Ernst Thälmann, der bis heute im benachbarten Bezirk Prenzlauer Berg an der Greifswalder Straße seine geballte Faust gen Himmel strecken darf, ist damit das Schicksal des Friedrichshainer Lenins besiegelt. Die Statue wird in 129 Teile zerteilt und auch die zahlreichen Protestaktionen können nicht verhindern, dass am 13. November der 3,5 Tonnen schwere Kopf des Sowjetführers in einer fast schon demonstrativen Aktion abmontiert wird.
Bewahren, aber irgendwie auch vergessen
Wie schon der echte Lenin wird der Berliner Lenin im Anschluss ins Exil geschickt, von der Mitte der Stadt an den südöstlichen Rand, wo der Kopf, die restlichen Teile der Statue und damit ein Kapitel ostdeutscher Geschichte im Köpenicker Forst vergraben werden, um in Vergessenheit zu geraten.
Doch Lenin ist nicht vergessen. Im Jahr 1996 macht sich die Hauptfigur in Rick Minnichs Kurzfilm „The Book of Lenin“ auf die Suche nach den letzten verbliebenen Lenin-Statuen im ehemaligen Ostblock, darunter auch den Berliner Lenin, dessen Existenz auf viele wie eine Art Mythos wirkt. Nach einiger Suche finden er und seine Mitstreiter:innen den Standort des Kopfes und graben ihn mit einfachen Schaufeln und Spitzhacken aus.
Es dauert noch fast zehn Jahre, bis der Kopf Lenins eine neue Heimat findet. Erst im Jahr 2015 wird er geborgen und auf eine weitere, letzte Reise geschickt. Ein Lastwagen bringt ihn von seinem Versteck durch den Stadtverkehr vom Köpenicker Forst ans andere, westliche Ende der Stadt, nach Spandau.
Dort liegt er nun in der kulturhistorischen Dauerausstellung „Enthüllt. Berlin und seine Denkmäler“, neben Männern in germanischen Rüstungen, ehemaligen preußischen Generälen und Kaisern sowie den überlebensgroßen Pferden von Josef Thorak, die für Hitlers Reichskanzlei gedacht waren – kurz, neben all den Statuen und Objekten, die die ideologische Ausrichtung vergangener Regime verkörpern und aus historischer Sicht zwar bewahrt, aber irgendwie auch vergessen werden sollten.
Radikales Vergessenwollen
Der schnelle Abriss der Lenin-Statue kurz nach der Wiedervereinigung ist ein symbolischer Akt, der das Ende einer politischen, ideologischen und historischen Ära markiert. Zugleich steht das Vergraben und Abschieben der Statue für ein radikales Vergessen und Nicht-auseinandersetzen-Wollen mit der eigenen deutsch-deutschen Vergangenheit.
Dass der Kopf in Spandau immer noch schlafend auf der Seite liegt, so wie sie ihn gefunden haben, und der Rest von Lenin noch im Wald schlummert, zeigt aber auch, dass man die Geister der Vergangenheit nicht zu sehr beschwören will. Gefallene Denkmäler wieder aufzurichten, ginge vielleicht doch zu weit.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Kopf Lenins am Ende im Westen gelandet ist und nun zu den zentralen und vor allem bekanntesten Stücken in Spandau gehört – auf der Website der Zitadelle kann er sogar als 3-D-Modell bewundert werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin