Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung: „Mut fördern, Optionen erkennen“
Barbara Unmüßig hat 20 Jahre lang die Heinrich-Böll-Stiftung geleitet. Jetzt geht sie in Rente. Ein Gespräch über den Mut, sich einzumischen.
Das Interview mit Barbara Unmüßig von der Heinrich-Böll-Stiftung findet an zwei Terminen statt. Der erste kurz vor dem Krieg in der Ukraine, der zweite am 34. Tag des Krieges. Dazwischen liegt die politische Zäsur, die vieles, was Unmüßig im ersten Teil anspricht, noch wichtiger macht. Und noch schwieriger umzusetzen.
taz am wochenende: Frau Unmüßig, zwanzig Jahre standen Sie der Heinrich-Böll-Stiftung vor; jetzt beenden Sie Ihre Arbeit. Woran ist Ihre Handschrift zu erkennen?
Barbara Unmüßig: Erst einmal daran, wen ich für die internationale Arbeit ausgewählt habe. Ob in den 34 Auslandsbüros, die die Heinrich-Böll-Stiftung hat, oder in der Zentrale in Berlin: Ich habe nach Leuten gesucht, die machtkritisch, menschlich und vor allem nicht paternalistisch sind. Leute, die die internationale Arbeit der Stiftung, die Menschen bei ihrem Kampf für Zivilgesellschaft, Klimaschutz, Menschen- und Frauenrechte unterstützt, verstehen.
Nicht paternalistisch, wie geht das?
Der Weg
Barbara Unmüßig, Jahrgang 1956, hat Politologie in Berlin studiert. Seit 1983 engagiert sie sich beruflich für internationale Gerechtigkeit und globalen Umwelt- und Klimaschutz. Sie hat in einigen NGOs gearbeitet und mehrere mitgegründet, darunter das Deutsche Institut für Menschenrechte.
Die Verantwortung
Im Jahr 2002 übernahm sie den Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit Ralf Fücks und hat die internationale Arbeit der Stiftung in den Bereichen Klimapolitik, Geschlechterpolitik, Demokratiepolitik vorangetrieben.
Indem man nicht alles besser weiß, sondern auch demütig zuhört und die Werte der Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, von Chile bis China, von Kapstadt bis Kiew, von Bogota bis Berlin, teilt. Ich kann auf dem Papier für Menschenrechte sein. Aber wie lebe ich das konkret? Wie verzichte ich darauf, unsere Sicht zum Maßstab zu machen? Wir sollten nicht vergessen, dass wir als Geldgebende schnell auch in eine Machtposition geraten. Daraus keine Macht zu ziehen, ist eine große Herausforderung, die Fingerspitzengefühl und Charakter erfordert.
Also ist Ihre Handschrift an Charakterstärke ausgerichtet?
Ich würde es Haltung nennen. Aber es gibt noch etwas, an dem man meine Handschrift erkennt: Ich habe mitgeholfen, der Stiftung eine Unabhängigkeit und eine eigene Stimme zu geben – auch innerhalb der sogenannten „grünen Familie“. Auf diese Eigenständigkeit kommt es jetzt, wo die Grünen in der Regierung sind, an. Es ist eine Riesenchance, dass durch die grüne Stiftung eine Vielfalt an Perspektiven auf die Welt sichtbar wird. Sie kann den grünen Politiker:innen den Welt-Spiegel vorhalten: Auf wessen Seite stehst du? Geht es dir wirklich um internationale Gerechtigkeit?
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
In letzter Zeit hat mich Impfgerechtigkeit umgetrieben. Es regt mich auf, dass die Bundesregierung sich nicht einmal zur temporären Freigabe der Impfpatente entschließen kann. Die Pandemie ist ein Gerechtigkeitsthema. Unsere internationalen Partner:innen fordern, dass die Impfpatente freigegeben werden als struktureller Hebel, Almosen brauchen sie nicht.
Was wollen Parteien eigentlich mit Stiftungen?
Unsere hat das Motto „Einmischen“. Das geht auf Heinrich Böll zurück, der sagte: „Einmischen ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“
Er sagte es aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Aber ist Einmischen heute nicht der Bequemlichkeit geopfert?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Einmischen wird vielfach mit Repression geahndet. Das ist das Problem. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit sind vielerorts massiv eingeschränkt oder verboten. Damit ist Einmischung und Teilhabe nicht möglich. Und hierzulande hat die Merkel-Regierung mit ihrer Politik des Vertagens uns eingelullt. Da ist es gut, dass durch Fridays for Future die Arbeit der Stiftung zur Klimakatastrophe wieder Rückenwind bekommen hat. Das zieht sich doch wie ein roter Faden durch mein Berufsleben, dass ich die Mitverantwortung der Industrieländer für die Klimakatastrophe und die Ungleichheit in der Welt thematisiere.
Die Stiftungskultur, die Sie gefördert haben, ist demnach: machtkritisch sein, menschlich, nicht paternalistisch, ökologisch, feministisch und absolut für Gerechtigkeit und Menschenrechte.
Menschenrechte sind wahnsinnig wichtig für mich. Ich habe die Wichtigkeit erst kapiert durch die Arbeit der Stiftung.
Wie genau?
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn du erlebst, wie im Globalen Süden, aber auch in Russland oder China Menschenrechte jeden Augenblick mit Füßen getreten werden, weil sie nicht institutionalisiert sind, weil es da keine Rechtsstaatlichkeit gibt, sondern Willkür und Nepotismus, dann weißt du erst zu schätzen, was wir uns hier erstritten haben. Ich weiß, es ist nicht perfekt, wie es hier läuft, aber es ist so, wie es ist, auch schon eine große Errungenschaft. Und das Selbstbestimmungsrecht, das ist für mich nicht nur im Völkerrecht total zentral, sondern gerade wenn es um Frauen und queere Menschen geht.
Viele hierzulande denken, in Sachen Selbstbestimmungsrechte gehe es weltweit vorwärts. Aber passiert nicht das Gegenteil?
Definitiv. Gucken Sie sich etwa El Salvador an, wo selbst Fehlgeburten kriminalisiert werden. Oder Südafrika, wo die Verfassung Rechte für Queere garantiert, aber gesellschaftlich ein Gegentrend herrscht und es Jagd auf Queere gibt. Und was in Polen los ist, das wissen Sie selbst.
Abtreibung unmöglich, Homosexualität gesellschaftlich verfolgt.
Aber gerade in Polen und Argentinien bewundere ich die Hartnäckigkeit der Frauen. Die Stiftung unterstützt sie. In Argentinien haben die Frauen es geschafft, dass Abtreibung legal ist. In Kolumbien übrigens auch.
Hatten Sie vor 20 Jahren eine Vorstellung, wie die Arbeit der Stiftung sich gestalten soll?
Die feministische Arbeit war von den Vorgänger:innen konturiert, aber die internationale Arbeit hatte noch keinen Fokus, es war nicht klar, um welche Themen es gehen soll. Damals war die Hochzeit der neoliberalen Globalisierung. Sie steht im kompletten Widerspruch zur ökologischen Nachhaltigkeit. Als ich anfing, gab es noch die große Hoffnung, dass das mit der Demokratieentwicklung immer weitergeht. Dass afrikanische Länder und selbst China sich weiter demokratisieren werden. Das hat sich nicht erfüllt.
Hat der Raubbau an der Natur zur Entdemokratisierung geführt?
Es ist komplizierter. Die ökonomische Globalisierung hat zu einer Verschlechterung der Situation des Planeten und aller sogenannten Umweltgüter geführt. Jeder Winkel des Planeten ist voller Plastik. Globalisierung befördert etwa auch fortgesetzte Abholzung und Überfischung und sorgt überhaupt dafür, dass das Treibhaus weiter angeheizt wird. Alle negativen Großtrends sind intensiviert worden. Gleichzeitig hat die ökonomische Globalisierung das Wohlstandsversprechen nicht erfüllt. Außer vielleicht in China. Weltweit hat die Globalisierung aber nicht dazu geführt, dass es den Leuten besser geht. Das glaubt heute auch niemand mehr, dass Globalisierung den Menschen Wohlstand bringt. Im Gegenteil: Sie hat Ungleichheit massiv verschärft.
Also hat Globalisierung den Raubbau an der Natur und der Raubbau an der Natur die Entdemokratisierung gefördert.
Dass wir im Ökologischen Irreversibles anzetteln, deprimiert mich. Für mich ist bitter, dass ich seit den 80er Jahren gegen die ökologische Zerstörung gearbeitet habe und sehe, dass es nicht reicht, was wir getan haben. Ich bin international vernetzt, und da sehe ich, wie Repression und Zerstörung in manchen Ländern Hand in Hand gehen. Aber es ist so: Einen Diktator kann man bekämpfen, auch wenn es dramatisch werden kann. Die Geschichte zeigt doch, dass Menschen Unrechtsregime zu Fall bringen können. Aber einen zerstörten Planeten kann man nicht so einfach wiederherstellen. Zerstörte Natur zu revitalisieren, das geht gar nicht oder dauert länger als viele Herrscherleben. Manche sagen: So what? Der Planet wird schon ohne uns oder mit weniger von uns zurechtkommen. Was ist das für ein Denken? Die Fülle und Vielfalt des Lebens ist das Wertvollste, was ich mir vorstellen kann.
Es deprimiert Sie, sagen Sie. Wie kann man unter der Prämisse so eine Institution leiten?
Gar nicht. Zum Professionellen gehört: optimistisch sein, den Mut fördern, die Optionen erkennen. Wir schaffen das. Aber ich zweifle, ich zweifle auch, dass das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen ist. Es treibt mich um, dass 1992 in UN-Dokumenten festgehalten wurde, dass das nördliche Konsum- und Produktionsmodell nicht globalisierbar ist. Das war eine irre Erkenntnis, über die ich mich damals sehr gefreut habe. Aber es ist keine Konsequenz daraus gezogen worden. Der Norden hat hie und da ein wenig was gemacht, in erneuerbare Energien investiert etwa, aber es gab kein politisch konsequentes Umsteuern, um in den sogenannten planetaren Grenzen zu bleiben.
Liegt es daran, dass der westliche Lebensstandard doch globalisiert worden ist?
Da kommt es immer darauf an, wer das so erzählt. Leute, die am Amazonas in noch relativ intakten Communitys leben, orientieren sich nicht unbedingt an unserem Lebensstandard. Aber wenn ihre Lebensgrundlagen zerstört werden, wird auch ihr ökologisch integrer Lebensstil zerstört. Es geht nicht darum, indigene Lebensformen zu idealisieren. Und Strom, Bildung, Gesundheitsvorsorge gehören zum guten Leben. Die gibt es dort.
Gibt unser Lebensstil also vor allem eines vor: kulturelle Überheblichkeit?
Das kann man so sagen. Gucken Sie doch mal, welche Debatten gesellschaftlich und politisch aus dem Blick geraten sind. Zum Beispiel wird die Idee, dass weniger mehr ist, immer noch als etwas beschrieben, was man am besten nicht in den politischen Diskurs aufnimmt. Auf der anderen Seite wird aber nie infrage gestellt, dass technologischer Fortschritt grundsätzlich aus der ökologischen Krise führen kann. Wo sind die Belege dafür?
Im ersten Gespräch hatten wir auch über die Situation an der ukrainischen Grenze gesprochen, wo Russland von drei Seiten Truppen aufmarschieren ließ. Dass Putin einen völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine beginnen könnte, schien dennoch unvorstellbar. Jetzt, beim zweiten Treffen, ist der Krieg in vollem Gange.
Christa Wolf hat geschrieben: Wann Krieg beginnt, kann man wissen, wann aber beginnt der Vorkrieg? – Wie konnten wir übersehen, was sich da anbahnt?
Wir haben nicht wirklich hingeschaut, haben verdrängt. Ich denke, dass die Strategie der Merkel-Regierung, Russland durch wechselseitige ökonomische Abhängigkeit einzubinden, schiefgegangen ist. Sie hat uns stattdessen in eine massive Abhängigkeit von russischem Gas gebracht und entsprechend erpressbar gemacht. Spätestens mit der Krimannexion hätte der Westen aus Nord Stream 2 aussteigen und mit den Sanktionen, die wir heute haben, reagieren müssen.
Das erklärt nicht, warum wir es übersehen haben.
Es war wirklich ein Wegsehen. Aber die Frage, die Sie stellen, ist sehr komplex. Weil sie uns mit unseren eigenen Widersprüchen konfrontiert. Wir haben die Kriegssituation in der Ukraine verdrängt. Wir verdrängen aber auch, dass eine Million Rohingyas in Bangladesh im Elend hocken. Klimaflüchtlinge – who cares? Spätestens nach der Flüchtlingskrise 2015 ist der brutale Syrienkrieg aus dem Blick geraten. Nichthandeln ist auch Handeln. Das habe ich da begriffen. Krieg als Geißel der Menschheit – wie verhindern wir den? Oder verhindern wir Krieg, indem wir kriegerisch eingreifen? Wann trittst du Unrecht mit gewaltsamen Mitteln entgegen? Es ist ein Ringen um die richtige Antwort. Ich finde, es gibt ein Recht auf Selbstverteidigung. Da fangen die Widersprüche schon an.
Gibt es irgendeine Position Putins, die wir jetzt verstehen lernen müssen?
Ich verstehe keine. Für mich ist das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität eines Landes ein zentraler Aspekt des Völkerrechts. Viele Errungenschaften, die Genfer Konventionen, das Völkerrecht überhaupt, wie es nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs entwickelt wurde, werden mit Füßen getreten. Ob Russland oder jedes andere Land, das dagegen verstößt, wir müssen das anprangern. Für mich ist Menschenrecht Menschenrecht und Völkerrecht Völkerrecht. Und wird es verletzt, fängt das Ringen an, was die richtige Antwort ist. Aber das Unrecht zu benennen, ist der erste Schritt.
Die ukrainische Historikerin Ljuba Danylenko schrieb in der taz, dass Deutschland jetzt seine historische Verantwortung Russland gegenüber los sei.
Der brutale Völkermord, den wir in Russland begangen haben, der bleibt historisch. Das schließt den Völkermord in der Ukraine ein. Für mich überholt sich keine historische Verantwortung.
Sie haben sich auch viel mit Konfliktbewältigung und Friedensarbeit beschäftigt. Vor allem aus der Perspektive von Frauen. Lösen Frauen Konflikte anders als Männer?
Es geht darum, die Perspektiven, Betroffenheiten und Lösungen von Frauen bei Konflikten zu sehen. Die fallen doch im Kriegszusammenhang raus. Erst allmählich gerät etwa Vergewaltigung als Kriegswaffe überhaupt auf der internationalen juristischen Ebene als Kriegsverbrechen in den Blick. Dafür waren wahnsinnige Kämpfe von feministischen Vorreiterinnen wie auch den Frauen in Bosnien und Kosovo nötig. Die Stiftung hat das vehement zum Thema gemacht. Der außenpolitische Mainstream hat uns belächelt und es gibt immer noch Versuche, das nebensächlich zu finden. Es ist so großartig, dass unsere Außenministerin Annalena Baerbock da so klar ist.
Sie wird von Leuten wie Friedrich Merz mit Häme überschüttet.
Deshalb braucht sie unsere solidarische Unterstützung. So wie wir die Stimmen unserer internationalen Partnerinnen verstärken wollen, muss umgekehrt auch von ihnen deutlich gemacht werden, was für einen Unterschied es macht, eine grüne feministische Außenministerin zu haben. Das schafft Glaubwürdigkeit. Das sind reziproke Verhältnisse, wie ich sie mir wünsche, Respekt im besten Sinne. Das ist das Gegenteil von Paternalismus.
Die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini, die viel in kriegerischen Konfliktsituationen vermittelt hat, sagte in einem Interview in der NZZ, man müsse auch bei grausamen Menschen die Menschlichkeit thematisieren, denn sie seien auch Menschen.
Da hat sie recht. Aber dahinter steckt die One-Billion-Dollar-Frage: Was stoppt Putin? Wir sind sprachlos, mit welcher Zerstörungswut eine einzelne Person vorgeht.
Angesichts des Krieges ist es schwierig, den Blick noch mal auf Sie zu lenken. Gibt es biografische Erklärungen, warum Sie so für Gerechtigkeit streiten?
Gerechtigkeit ist mein Lebensthema; es hat auch mit meiner Herkunft als Arbeiterkind zu tun. Da ist man schnell bei all den Themen: Was ist gerecht verteilt? Was nicht? Aber sagen Sie mir lieber, wie kann jemand nicht für Gerechtigkeit und Frieden sein?
Stehen Sie, die Sie sich so dafür eingesetzt haben, jetzt mehr denn je mit dem Rücken zur Wand?
Nein. Ohnmacht ist keine Antwort. Dann hätten die, gegen die ich mit so vielen MitstreiterInnen angehe, gewonnen.
Sie gehen in Rente. Wird das ein neuer Anfang sein?
Auf jeden Fall. Ich werde eine politische Frau bleiben.
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