Lehman-Pleite: Wo die Krise Dauergast ist
An Frau Kochs Trinkhalle in Hannovers Südstadt ist von Lehman-Pleite und Börsencrash nicht viel zu spüren. Hier fließen trotzdem Bier und Schnaps wie ein stiller ruhiger Fluss.
"Was wolln se hier reportieren? Ein Jahr Lehman-Pleite?", Frau Koch schüttelt erst den silbergrauen Pony, dann den zierlichen, geschätzte 1,50 Meter kleinen Körper. "Ham wir nix von gemerkt, Pawel*, oder ham wa doch?" Pawel setzt den Flachmann Wodka an, saugt kurz an einer Tüte Caprisonne, dann wischt er bedächtig über seinen Lech-Walesa-Schnauzer: "Wirtschaftskrise, vielleicht gibs, vielleicht nich, aber stört nich."
An der Trinkhalle von Erna Koch rauschen Jahrzehnte und Wirtschaftskrisen vorbei wie der tägliche Berufsverkehr auf der Sallstraße. Sie hat zwei bewaffnete Überfälle überstanden, in den Sechzigern ihren Mann verloren, allein drei Kinder großgezogen und erlebt, wie mit städtischen Subventionen gepäppelte Supermärkte und Discounter die kleinen Geschäfte im Viertel allmählich ruinierten. Mittlerweile ist Frau Koch 79, immer noch temperamentvoll wie ein Springteufel und ein unbeugsamer Charakterkopf. "Um mich zu sanieren, könnte ich dieses scheußliche Billigbier ja auch anbieten. Mach ich aber nicht."
Seit 41 Jahren verkauft sie alles, was der Südstädter zum Leben braucht. Wer nicht mehr selber kommen kann, kriegt es von Frau Koch oder der Stammkundschaft in die Wohnung gebracht. Die Stammkundschaft, das sind vorrangig Menschen wie Pawel, die ein wenig aus der Zeit gefallen sind. Pawel kam vor 26 Jahren aus Polen, als das Leben unter General Jaruzelski unerträglich wurde. Anfangs bediente Pawel in Hannovers besseren Restaurants, im Budweiser und Prager Hof. Einmal Richard Burton, mehrmals Karel Gott und Exkanzler Schöder oder Hannovers unberechenbaren Tschechen-Stürmer Jiri Staijner, als der noch bis Morgens um drei um die Häuser zog. Dann ging einiges schief. Jetzt legt Frau Koch Fünferpacks Wodka und Caprisonne mehrmals täglich in den Kühlschrank und Pawel trinkt alles aus. "Erna ist wie Mutter in Warschau", murmelt er, "die gute Seele in meine Läbben."
Nicht nur in seinem. Erna Kochs Trinkhalle ist so etwas wie das letzte Stück Kiez im Viertel und Sozialstation für alle, die sich den Gang in die Kneipe nicht leisten können oder wollen. Von morgens sieben bis abends elf tigert die 79-Jährige unermüdlich um ein gebirgiges Eiland aus Bier- und Brausekästen. Rechts dräut ein Ensemble aus Plastikblumen, an der hinteren Wand ein Regal, in dem die Waren akkurat wie Zinnsoldaten stehen. Vor der Durchreiche öffnet sich ein überdachtes Kabuff, tapeziert mit Langnese-Eistafeln aus drei, Postkarten aus vier Jahrzehnten, Plakaten und ein paar vergilbten Fotos der Inhaberin. Über einem prangt die Inschrift. "Mutter der Südstadt", ein Geschenk der Stammkundschaft zum 75. Geburtstag.
Die hockt hier spätestens ab drei Uhr und wappnet sich hochprozentig gegen die Zumutungen des heideggerschen "Geworfenseins". Außer Pawel, der seinen Stuhl schon ab neun besetzt hält. "Das ist Gundel, das ist die Rita, das der Hanno und da kommt Wolle", sagt Frau Koch. "Und der Herr is Journalist, recherchiert wegen der Wirtschaftskrise." - "Für die Bild?" - "Nee, für die taz." - "Kenn wa nich." - "Macht nix." - "Na, denn Prost!" - "Prost."
Für Gundel, jahrelang auf Hartz IV, ist das Leben eine Dauerkrise. Will heißen, das Elend des Universums erklärt sich mit zwei Axiomen: "Die Großen machen, was sie wollen." Und: "Wenn alle ein bisschen ehrlicher wären, wäre alles besser." Wirklich aufregen kann die üppige Blondine nur noch der Fuß von Hanno. "Da isn Loch drin, kannste bis aufn Knochen gucken. Da schreib mal was drüber." Zum Beweis zieht Hanno schnaufend die Hose über einen blutig durchsuppten Verband. Gundel ist in Rage: "Er war bei vier Ärzten und in zwei Krankenhäuser. Seitdem kaut er Antibiotika. Das geht auf keine Kuhhaut." Hanno, ein Schrank von einem Kerl, schüttelt den Kopf: "Se sagen, es liegt nich am Alkohol, se sagen, es liegt nich an die Zigaretten, aber was es is, weiß keiner. Wenn ich nich sone Bärennatur hätte, wär der Fuß schon ab."
Wolle, der Automechaniker Blaumann, ölverschmierte Schuhen und Hände kennt die Geschichte auswendig. Er grient bis zu den Elvis-Koteletten und pustet eine Lunge voll Rauch durch das Büdchen. "Scheiße ist nicht die Krise, sondern die Abwrackprämie", sagt er. "Die Kunden, die sich mit Staatsknete ne neue Karosse gekauft haben, sehen wir drei Jahre nich wieder." Aber sonst "läuft es planmäßig, wie das Pils". Wolle bestellt nochmal für alle, dann muss er wieder, "noch ne Stunde schrauben".
Die Finanzverwaltung der Stadt Hannover hat dagegen schon Feierabend. Peter grüßt in die Runde und legt die Hände voller Vorfreude um eine Flasche Herrenhäuser. Gerade hat Hannovers Oberbürgermeister den Rat in ein Finanzloch blicken lassen, das bis 2013 860 Millionen tief sein wird. "Bisher", sagt Peter, "lief es ja so: Wenn das Geld nicht reichte, wurden halt Kredite aufgenommen. Aber damit ist es jetzt vorbei." Mehr sagt er nicht. "Ist öffentlicher Dienst und ich rede mich hier um Kopf und Kragen."
Das soll er nicht. Frau Koch schiebt neue Halbe durch die Luke, während Krankenschwester Rita erklärt, was echtes Krisenmanagement bedeutet. "Als mein Mann gestorben ist, stand Frau Koch bei mir vor der Tür, mit einem Umschlag. Da waren 3.000 Mark drin. Damit Sie über die Runden kommen, hat sie gesagt." Rita hat es nicht genommen, aber "seitdem sind wir Freundinnen". "Quassel nich so viel", sagt Frau Koch und raunt: "Das brauchen Se nich zu schreiben, das is privat."
* Namen der Kundschaft wurden auf Wunsch geändert
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