Legendäres Rolling-Stones-Album: Steuerflucht an die Côte d'Azur
Zu Beginn der 70er Jahre waren die Rolling Stones am Ende. Dann produzierten sie das Album "Exile on Main St.". Fast 40 Jahre nach Erscheinen gilt es als beste Rockplatte.
Inzwischen scheint ja ein jeder Pizzabote, der einmal an der Villa Nellcôte in Villefranche geklingelt hat, ein Enthüllungsbuch über "seine Erlebnisse" mit den Rolling Stones im selbstgewählten Steuerexil an der Côte dAzur veröffentlicht zu haben: Mann, da ging so was von die Post ab, Drogen, laute Musik, Weiber, eine sonnenflirrende Party vom Mai 1971 bis in die Puppen des ausgehenden Jahres, und mittendrin nahmen die Stones eine Platte auf, da wäre man gern dabei gewesen, hätte man was davon gewusst, aber wir waren ja erst 16 und saßen ein wenig verdattert um einen mit Resopal bezogenen Küchentisch in einem kleinen Knusperknäuschen in Niederbayern: "Exile on Main St." lag vor uns, die neue Stones-LP, das komische Robert-Frank-Cover mit den Kontaktabzügen, die Schrift so ein Gekrakel. Und vor allem: keine Hits.
Einer von uns hatte sein Schüler-Bafög geopfert, um die Zusammenkünfte an der Billigst-Stereo-Dröhnmaschine mit einem neuen "Satisfaction" zu bereichern, und nun das hier. Jagger war irgendwie gar nicht zu hören, dann Bläser, so ne Scheiße, viel Geklimper mit der rechten Hand, Backgroundsängerinnen, die Geißel der 70er, Country, Dschungelgetrommel, nein, das hatten wir uns definitiv anders vorgestellt, mehr so wie "Brown Sugar", wo man gleich mitdengeln kann und die Luftgitarre rausholen, aber wem erzähle ich das? Andererseits gibt man so ein Taschengelddesaster nicht so gern zu, "Tumblin Dice", da würde man sich vielleicht dran gewöhnen, aber sonst? Katzenmusik. Was sang der da? "I only get my rocks off while Im dreaming"?
Mann, unsere Felsen gingen ab, wenn der Quelle-Katalog versehentlich oder absichtlich an der Unterwäsche-Seite offen rumlag. Jagger hatte vielleicht Probleme - die Probleme eines dreißigjährigen Dandys, aber keinesfalls die Probleme eines pickligen Biertrinkers aus der deutschen Provinz, den die Mädchen nicht einmal mit der Grillzange anfassen würden. Wie auch immer, die Stones waren erst mal durch; ein paar Monate später habe ich meinem Freund die Platte trotzdem abgetauscht gegen was weiß ich, weil mich irgendwas an dieser Sorte Stones faszinierte, trotz aller Mängel aus Pubertierenden-Sicht.
Ein paar Jahre später wurde mir schließlich klar, dass dies hier die ultimative Rockplatte ist, Schluss, aus, vielleicht weil der Quelle-Katalog nicht mehr so aufreizend wirkte wie einst: Die CD-Version wurde nachgekauft, Texte über die Platte geschrieben, schließlich erscheint heute eine aufgebrezelte Fassung für das 21. Jahrhundert mit zehn Bonus-Tracks und die Super Deluxe Edition mit goldener Badewanne und darin liegendem Buch samt DVD, und bei den Filmfestspielen von Cannes wird das Teil auch gezeigt. Nicht die Badewanne, der Film. Zur besten Rockplatte aller Zeiten. Wie gesagt.
In dem Film erzählt Bobby Keys, der Saxofonist auf "Exile on Main St.": "Ja, verdammt, da wurden ein paar Joints gedreht und Whiskeyflaschen standen da und die Mädels hatten wenig an, es ging schließlich um Rock n Roll". Doch der Chef, inzwischen auf einem etwas bräsig wirkenden Elder-Statesman-Trip, ist durchaus anderer Wahrnehmung: "Alles musste ich selbst erledigen; der Produzent Jimmy Miller hatte nichts mehr im Griff und ansonsten lagen da nur Betrunkene oder Junkies herum."
Dabei dürfte "Exile on Main St." die einzige Stones-Platte sein, bei der Jagger nicht voll und ganz das Sagen hatte. Zu Beginn der 1970er-Jahre war die Band eigentlich am Ende, fertig, trotz sensationeller Alben und triumphaler Tourneen. Brian Jones war in seinem Swimmingpool gestorben, vielleicht ermordet worden. Jagger hatte sich von Marianne Faithful getrennt, auch nicht einfach. Das Altamont-Debakel mit dem Tod von Meredith Hunter wurde den Stones als Konsequenz ihrer Hybris angekreidet. Die britische Labour-Regierung hasste Hippie-Millionäre und forderte gigantische Steuerschulden ein, aber Geld war keins da. Die Amerika-Rechte an allen Tantiemen waren in die Hände des Rechtsanwaltes Allen Klein geraten, der gar nicht daran dachte, einen Cent davon wieder herzugeben.
Prozesse wurden geführt und eingestellt. Vergleich nennt man diese Art von Pleite. Jagger drehte komische Filme, Richards ließ sich mit der Marseiller Drogenmafia ein, und Charlie Watts und Bill Wyman waren auch keine große Hilfe. Da war es Zeit für einen Befreiungsschlag, und wer sollte den führen, wenn nicht Mick Mastermind himself. Die Band wurde auf Anraten des Steuerberaters an die Côte dAzur kommandiert, auch wenn Wyman und Watts klagten, dass eine bestimmte Sorte Senfgurken bei den Froschfressern schwer zu erhalten sei und die Milch anders schmecke.
Keith Richards und Anita Pallenberg entschieden sich für ein kleines Schlösschen im Braunen (die Nazis sollen da früher mal residiert haben), und nach Micks Hochzeit mit Bianca im Mai 1971 zog die Hochzeitsparty einfach dorthin um; Gram Parsons samt Frau und Heroinvorräten stieß hinzu, Dr. John, Nicky Hopkins und Ian Stewart ließen ein Klavier aufstellen, Mick Taylor brachte sein Schminkköfferchen mit, Jagger parkte die hochschwangere Ehefrau unter tausend Liebesschwüren in Paris und los konnte es gehen - die Stones waren in der Stadt. Man feierte und wohnte und schlief kreuz und quer durch diese tumultuösen Monate wie einst die Protagonisten in Boccaccios Decamerone, und wenn Keith im Morgengrauen mit seiner musikalischen Entourage Richtung Kellerstudio trödelte, konnte man Mick mit den Zähnen knirschen hören: Doch der Hausherr war Keith, was soll man machen?
Bitte 18-mal durchklicken!
Charlie Watts beschreibt den Arbeitsprozess: "Keiths Rezept ist einfach. Man nehme einen Song, spiele ihn zwanzigmal, lasse ihn dann gut durchziehen, spiele ihn wieder zwanzigmal, und dann taugt er entweder was. Oder nicht." Jagger zischte später so was wie "lausig" und "keine Disziplin in der Truppe", nahm die Bänder mit nach Los Angeles, fügte noch ein paar Lyrics hinzu und gab es schließlich auf, seinen Gesang aus dem tiefblau eingefärbten R & B-Schlamm zu extrahieren, den Richards und Produzent Jimmy Miller da zusammengemixt hatten.
Was man auf "Exile on Main St." zu hören bekommt, immer noch, ist genau diese Opposition zwischen Rock und Roll, zwischen Jagger und Richards. Der gerade auf dem falschen Fuß erwischte Musik-Bürokrat versus egomanischer Momentmensch. Von "Rocks Off" über "Rip this Joint" bis "Turd on the Run" hörte man dieses unglaubliche Eingespieltsein, dieses Selbstverständliche unendlich oft geübter Spielzüge (würde man im Fußball sagen), diese Automatismen, die den Teppich erst zum Fliegen bringen, diesen Groove eines glücklichen Moments - ständig wird beschleunigt und voll abgebremst, als sei es die einfachste Übung der Welt. Dazu diese Anfänge! Bitte im CD-Player 18-mal durchklicken. Brennender Gummi. Lautpoesie. Wie 18 große erste Sätze aus Jahrhundertromanen, bei denen niederbayerische Teenager noch nicht mitkommen und nie mithalten können, weil sie nicht ahnen, was ein Learjet sein könnte und wie sich das anfühlt, wenn eine Balletttänzerin auf deinem erigierten Schwanz eine Pirouette dreht.
Rock n Roll ist in einem ganz positiven Sinne mit "Exile on Main St." erwachsen geworden. Selbstbestimmt. Frei. Souverän. Aber auch dekadent und entrückt. Sogar Jagger erliegt diesem Sog des langen Moments, der stillstehenden Zeit, der Faszination am Stones-Sein, vertreibt seinen Nebenbuhler Gram Parsons vom Hofe (selbst in der CD-Neuauflage und der DVD findet er keine Erwähnung) und pimpt sein Ego auf, indem er sich an Anita Pallenberg ranmacht.
Dazu singt er in seinem feinsten Fake-Amerikanisch, dreht und rollt sich wie eine läufige Kätzin, wulst den Lipp und tut den Mick. "Exile on Main St." leuchtet von innen heraus, es glüht wie Hölle, auch nach vierzig Jahren noch, ein Leuchtfeuer des Hedonismus. Des menschlichen Glücks. Ein kolossaler Irrtum. Wie alle schönsten Dinge des Lebens.
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