Legasthenie-Vermerke im Zeugnis: Die Schimäre der Gerechtigkeit
Legasthenie-Hinweise müssen im Zeugnis vermerkt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeugt von einem eingeschränkten Gerechtigkeitsbegriff.
An dem Urteil zeigt sich wieder, wie ungerecht unser Bildungssystem ist Foto: Sascha Steinach/imago
In Deutschland geht es gerecht zu, insbesondere in der Bildung. Jeder hat – theoretisch – die gleichen Chancen, entsprechend seinen Leistungen und Fähigkeiten bewertet zu werden. Deshalb, so das Bundesverfassungsgericht, muss es im Abiturzeugnis vermerkt werden, wenn bei Schüler:innen wegen ihrer Legasthenie die Rechtschreibung nicht bewertet wird.
Die Richter:innen glauben ernsthaft, dass der Glaube an ein gerechtes deutsches Bildungssystem gefährdet wäre, wenn bei Legastheniker:innen der kleine Notenvorteil nicht ins Zeugnis geschrieben wird. Dabei gibt es so viele Vor- und Nachteile im Bildungssystem. Man könnte ja wirklich eine Menge ins Zeugnis schreiben. Aber der Vermerk über den „Vorteil“ für Legastheniker, der soll Gerechtigkeit schaffen.
Dabei ist es an sich schon eine besonders großartige Leistung, wenn sich junge Leute trotz Lese- und Rechtschreibschwäche überhaupt durch unser lese- und schreibfixiertes Schulwesen bis zum Abitur durchkämpfen.
Doch statt dies wertzuschätzen, meinen die Verfassungsrichter:innen, dass hier eine Ungerechtigkeit gegenüber den anderen Schüler:innen transparent gemacht werden muss, wenn die Schreibleistung der Legastheniker nicht bewertet wird. Welch großer Kleinmut.
Die meisten Legasthenie-Kinder lassen lieber ihre desaströse Rechtschreibung benoten, um den stigmatisierenden Vermerk im Zeugnis zu vermeiden. Was ist das für eine Vorstellung von Inklusion, in der man lieber auf den Schutz verzichtet, weil er mit gezielter Stigmatisierung verbunden wird?
Nun ist die Schreib- und vor allem Lesefähigkeit natürlich wichtig. Und es ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass sie sich in der Benotung niederschlägt. Wer Aufgaben nicht richtig lesen kann und deshalb missversteht, weil er den ganzen Tag nur „Born to kill“ spielt, wird zu Recht entsprechend benotet. Aber im Zeugnis steht dann trotzdem nichts von einer Leseschwäche. Diesen Warnhinweis bekommen nur Legastheniker:innen.
An dieser Regelung ist so vieles ungerecht. Schon deshalb ist sie nicht geeignet, den Glauben an ein gerechtes Bildungssystem zu stützen.
Legasthenie-Vermerke im Zeugnis: Die Schimäre der Gerechtigkeit
Legasthenie-Hinweise müssen im Zeugnis vermerkt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeugt von einem eingeschränkten Gerechtigkeitsbegriff.
An dem Urteil zeigt sich wieder, wie ungerecht unser Bildungssystem ist Foto: Sascha Steinach/imago
In Deutschland geht es gerecht zu, insbesondere in der Bildung. Jeder hat – theoretisch – die gleichen Chancen, entsprechend seinen Leistungen und Fähigkeiten bewertet zu werden. Deshalb, so das Bundesverfassungsgericht, muss es im Abiturzeugnis vermerkt werden, wenn bei Schüler:innen wegen ihrer Legasthenie die Rechtschreibung nicht bewertet wird.
Die Richter:innen glauben ernsthaft, dass der Glaube an ein gerechtes deutsches Bildungssystem gefährdet wäre, wenn bei Legastheniker:innen der kleine Notenvorteil nicht ins Zeugnis geschrieben wird. Dabei gibt es so viele Vor- und Nachteile im Bildungssystem. Man könnte ja wirklich eine Menge ins Zeugnis schreiben. Aber der Vermerk über den „Vorteil“ für Legastheniker, der soll Gerechtigkeit schaffen.
Dabei ist es an sich schon eine besonders großartige Leistung, wenn sich junge Leute trotz Lese- und Rechtschreibschwäche überhaupt durch unser lese- und schreibfixiertes Schulwesen bis zum Abitur durchkämpfen.
Doch statt dies wertzuschätzen, meinen die Verfassungsrichter:innen, dass hier eine Ungerechtigkeit gegenüber den anderen Schüler:innen transparent gemacht werden muss, wenn die Schreibleistung der Legastheniker nicht bewertet wird. Welch großer Kleinmut.
Die meisten Legasthenie-Kinder lassen lieber ihre desaströse Rechtschreibung benoten, um den stigmatisierenden Vermerk im Zeugnis zu vermeiden. Was ist das für eine Vorstellung von Inklusion, in der man lieber auf den Schutz verzichtet, weil er mit gezielter Stigmatisierung verbunden wird?
Nun ist die Schreib- und vor allem Lesefähigkeit natürlich wichtig. Und es ist grundsätzlich nachvollziehbar, dass sie sich in der Benotung niederschlägt. Wer Aufgaben nicht richtig lesen kann und deshalb missversteht, weil er den ganzen Tag nur „Born to kill“ spielt, wird zu Recht entsprechend benotet. Aber im Zeugnis steht dann trotzdem nichts von einer Leseschwäche. Diesen Warnhinweis bekommen nur Legastheniker:innen.
An dieser Regelung ist so vieles ungerecht. Schon deshalb ist sie nicht geeignet, den Glauben an ein gerechtes Bildungssystem zu stützen.
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Kommentar von
Christian Rath
Rechtspolitischer Korrespondent
Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).
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