Leben in Zeiten von „Projekten“: Die Luftmenschen
Alle arbeiten an irgendeinem „Projekt“. Dabei galten Projektmacher einst als windige Geschäftsleute. Heute sind sie selbstbestimmte Avantgarde.
Bei Karstadt waren die Ventilatoren ausverkauft. „Sie arbeiten wohl auch bei so Projektemachern – in einem überhitzten Loft?!“ fragte die Verkäuferin, und fügte hinzu: „Die kaufen jetzt ständig diese Dinger.“ Diese Projektemacher: Selbst wenn einer nur eine kleine Rezension schreibt, redet er inzwischen von einem „Projekt“. Und auf Partys und Ausstellungseröffnungen wird man ständig gefragt: „An was für einem Projekt arbeitest du denn gerade?“
Das war schon einmal so – in Russland! Dort wurden vor der Revolution mehr Menschen ausgebildet, als es Arbeitsplätze für sie gab. Man nannte diese Leute „Luftmenschen“ – Dostojewski hat einige von ihnen porträtiert. Besonders viele Luftmenschen gab es in den jüdischen Siedlungsgebieten, wo die Alphabetisierungsrate teilweise bei 100 Prozent lag und die Arbeitslosigkeit besonders hoch war. Fast jeder war dort schriftkundig, was dazu führte, dass auch noch lange nach der Revolution die Juden in vielen russischen und österreichischen Schulen beziehungsweise Universitäten eine Mehrheit stellten.
Keiner wusste so recht, wovon diese Luftmenschen lebten: Sie hatten bloß mehr oder weniger verzweifelte Pläne und Ideen, waren bettelarm – und warteten auf ein Wunder, das auch – säkularisiert – ein Zufall sein konnte. Das war dann für alle auf einmal die russische Revolution, die aus ihnen „Projektemacher“ zauberte. Wenn sie sich weiterhin illegal betätigten, zum Beispiel im Lebensmittel- oder Menschenschmuggel, sprach man – jiddisch – von „Machern“.
Nach Festigung der Revolutionsorgane wurden diese von Projektemachern geradezu bestürmt: Mit ein bisschen Überredungskunst und Wissen schafften es viele, von den neuen Behördenleitern, die ebenfalls zumeist aus Projektemachern bestanden, Mensch und Material sowie Räume und Essensmarken zur Verwirklichung ihrer „revolutionären Ideen“ zu bekommen.
Im Laufe der Zeit wurden diese Projekte immer gigantischer – bis hin zu landesweiten Elektrifizierungs- und Industrialisierungsvorhaben, Staudämmen, neuen Städten, Raketenprogrammen, Atombomben und der Umleitung sibirischer Flüsse. Diese Staatsprojekte schluckten auf dem Wege der Massenmobilisierung ganze Bataillone von Projektemachern – die dadurch langsam zu den entscheidenden Trägern des neuen Sowjetsystems wurden, das seinerseits ein Projekt war – zuerst weltweit und dann in einem Land.
„Optimale Erkenntnisposition“
Doch es gab auch Zigtausende von Luftmenschen die auswanderten – zumeist nach Amerika. Dort befasste sich u. a. die neue Chicagoer Schule für Soziologie, die von Robert Park gegründet und geleitet wurde, mit den Emigranten. Diese Menschen waren zwar arm, konnten meist die Sprache nicht und mussten sich so in der Neuen Welt alleine aus ihrer wie man es nannte „Marginal Man Position“ kämpfen, aber sie befanden sich dafür – wie Robert Park und seine Mitarbeiter herausfanden – in einer „optimalen Erkenntnisposition“.
Sie waren nicht mehr mit ihrer Heimat verbunden und noch nicht integriert – mit um so wacheren Augen betrachteten sie das ihnen vollkommen fremde, aber doch auch allzu vertraute Geschehen um sie herum, versuchten es zu verstehen und suchten gleichzeitig nach einer „günstigen Gelegenheit“, um sich irgendwo einzuklincken, wie man heute sagen würde.
Während man in Europa nach einem dreimaligen Berufswechsel als Gescheiterter gilt, ist in den USA umgekehrt eine Biografie ohne große unterschiedliche Berufserfahrungen fast unausgereift. Der Luftmensch und Projektemacher ist Amerika immer willkommen gewesen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der „Projektemacher“, der sich den Europäern Ende des 17.Jahrhunderts erstmalig aufdrängte, immer wieder in wahren Schüben nach Drüben abgeschoben wurde, wo er dann seine wahre Heimat fand.
Laut dem Projektemacher-Forscher Georg Stanitzek begann nach erscheinen des „Essays upon Projects“ von Daniel Defoe (1697) geradezu eine „Projektenperiode“. Schon in den ersten aufklärerischen Publikationen wimmelte es von Anregungen zur „Verbesserung“. In Diderots „Enzyclopédie“ wird das Projekt definiert als „ein Plan, den man sich vorgibt, um ihn zu realisieren“, genauer: „ein Arrangement von Mitteln, welche eine Absicht (un dessein, synonym mit procet) ausführbar machen sollen“.
Im 19. Jahrhundert gab es schon so viele Luftmenschen oder Projektemacher, dass zum Beispiel die Sparkasse von Emden solchen Leuten damals ihr Geld geradezu aufdrängte, damit sie sich ein One-Way-Ticket nach Amerika kauften – und aus Ostfriesland verschwanden. Und der große friesische Schriftsteller Theodor Storm wurde mit einem Drama über einen gescheiterten Projektemacher berühmt: „Der Schimmelreiter“. Es geht darin um den Deichgrafen Hauke Haien, der mit seinem Ehrgeiz und seinen hochfahrenden neuen Deichplänen an der sturen friesischen Kollektivität scheitert. Heute ist seine Küstenschutzidee längst überall verwirklicht.
„Ich-AGs“
Für den protestantischen Bürger und Unternehmer waren die Projektemacher zunächst alles „windige Geschäftemacher“, das heißt unseriöse Konkurrenten und überhaupt charakterlose, unmoralische Menschen. Bereits im „Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste“ von 1741 wird vor ihnen gewarnt, „weil sie insgemein Betrüger sind“. In seiner „Einleitung zur wahren Staatsklugheit“ erklärte ein Autor 1751 auch warum: „Solche Leute machen gemeiniglich fürtrefflich scheinbare Projecte auf dem Papier, und thun dem Herrn allerhand Vorschläge; können sie aber selten ausführen, und kommen darüber in Ungnade.“ Die Verachtung des „lächerlichen Projectanten“ (Josef Richter, 1811) geht einher mit einer – bis heute – wachsenden allgemeinen Wertschätzung von Projekten.
Währenddessen geraten nicht nur immer mehr soziale Gruppen und Schichten in die Position von Luftmenschen und Projektemachern, deren „Freisetzung“ wird sogar neuerdings vom Staat noch propagiert und gefördert: in Deutschland zum Beispiel durch das neue Insolvenzrecht, mit finanziellen Starthilfen für Existenzgründungen und so genannte „Ich-AGs“, mittels Risikokapital-Fonds und anhaltendem Outsourcing.
In Berlin haben sich derzeit die Arbeitslosen-Coachs (die Fitmacher der Jobcenter) anscheinend vorgenommen, die Stadt zu einer Dienstleistungsmetropole umzuformen. Dazu favorisieren sie die Gründung immer neuer internetbasierter Serviceanbieter. Jede Woche plakatiert in den U-Bahnhöfen ein neuer. Es geht um Wohnungen putzen, Pizzas ausliefern, Lebensmittel einkaufen, Gekauftes an die Haustür schaffen, Restaurantessen nach Hause liefern, die Klospülung bedienen und so weiter.
Diese Projektemacher arbeiten an ihrem Internetauftritt und denken sich tolle Werbesprüche aus (Wer noch selbst seinen Einkauf nach Hause trägt, ist ein Depp). Für die eigentliche Arbeit, das Einkaufen, Anliefern, Putzen heuern sie irgendwelche Deppen aus dem Billiglohnsektor an. Oder ihr Coach sorgt beim Jobcenter dafür, dass diesen internetten Kopfarbeitern auch genügend willfährige Handarbeiter zur Verfügung stehen. Das Problem dabei ist nur: Es gibt in der Stadt zu wenig Leute, die sich solche ins Luxuriöse lappenden Serviceangebote noch leisten können.
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